Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Oder die Meltlands? Die Deadlands? Was liegt dahinter? Es gibt Gerüchte über alte Waggons, Schienen, Tunnel, große, luftige Fabriken, Freizeitparks – es gab nicht nur Disney World – Zoos, Museen und Stadien. Brücken gab es früher auch mal – eine davon führte über einen Fluss, der sich angeblich westlich von hier befindet. Ist das alles weg?
»Als du zwei Jahre alt warst, hattest du ein Pony auf deiner Geburtstagsfeier«, sagt ihr Großvater.
»Ein Pony?«, fragt sie und klumpt in den schweren Holzschuhen herum. Sie fühlt sich, als hätte sie Hufe. Sie trägt eine Wollhose, Socken und einen Pullover. Die Wolle für ihre Kleidung stammt von Schafen, die draußen vor der Stadt gehalten werden, wo es Stellen mit hartem, magerem Gras und ein paar Baumreihen gibt, die an OSR-Land grenzen. Dort jagen einige Überlebende neue Tierarten, geflügelte Viecher und pelzige Bestien, die den Boden nach Knollen und Wurzeln durchwühlen oder sich gegenseitig fressen. Manche Schafe sind kaum als solche zu erkennen, doch obwohl deformiert, mit verdrehten, spitzen Hörnern, die sie beim Grasen behindern, ist ihre Wolle immer noch brauchbar. Einige der Überlebenden haben sich damit eine Existenz aufgebaut. »Warum denn ein Pony? Wo sollten sie denn ein Pony unterbringen?«
»Es ist im Garten im Kreis gelaufen. Jeder durfte darauf reiten.« Es ist das erste Mal, dass sie von einem Pony hört. Ihr Großvater hat ihr viele Geschichten über Geburtstage erzählt. Eiscreme, Kuchen, Piñatas, Wasserbomben. Woher hat er das nun schon wieder?
»Meine Eltern haben ein Pony gemietet, das in unserem Garten im Kreis herumgelaufen ist?« Ihre Eltern sind Fremde für sie. Der kleinste Hinweis auf sie verursacht einen unersättlichen Hunger.
Großvater nickt. Er sieht plötzlich müde aus und sehr alt. »Manchmal bin ich froh, dass sie das alles nicht erleben mussten.«
Pressia sagt nichts, aber seine Worte brennen tief in ihr. Sie will ihre Eltern bei sich haben, hier und jetzt. Sie versucht bestimmte Augenblicke aus ihrem Leben in ihrem Kopf zu speichern, damit sie ihnen eines Tages alles erzählen kann, nur für den Fall. Und obwohl sie weiß, dass ihre Eltern tot sind, kann sie damit nicht aufhören. Selbst jetzt denkt sie, dass sie ihnen von ihrem Geburtstag erzählen wird, Windmühlen und Clogs und alles. Und falls sie sie jemals wiedersieht – und obwohl sie weiß, dass es nicht der Fall sein wird –, wird sie ihnen Fragen stellen. Sie würden ihr Geschichten erzählen, und Pressia würde sie nach dem Pony fragen. Sie wünscht sich, dass ihre Eltern irgendwie über sie wachen, all das sehen, so wie in manchen Religionen, die an den Himmel und die ewig lebende Seele glauben. Manchmal kann sie fast spüren, wie ihre Eltern sie beobachten – auch wenn sie nicht sicher ist, ob Mutter oder Vater. Sie kann zwar mit niemandem darüber reden, aber es ist ein Trost.
»Und das andere Geschenk? Von Bradwell?« Ihr Großvater klingt teils misstrauisch, teils spöttisch, ein Tonfall, den sie noch nie bei ihm gehört hat.
»Wahrscheinlich irgendwas Dummes. Oder Gemeines. Er kann ganz schön gemein sein.«
»Willst du es nicht aufmachen?«
Ein Teil von ihr will es tatsächlich nicht, doch das würde das Geschenk nur wichtiger scheinen lassen, als es ist. Um es schnell hinter sich zu bringen, zieht sie die Schleife auf, die Schnur löst sich und fällt auf den Tisch. Sie bringt die Schnur zu Freedles Käfig und schiebt sie zwischen den Stäben hindurch. Freedle mag kleine Sachen, mit denen er spielen kann – oder zumindest mochte er sie, als er noch jünger war. »Hier, für dich«, sagt Pressia.
Freedles Augen richten sich auf die Schnur. Er flattert mit den Flügeln.
Pressia geht zum Tisch zurück, setzt sich und entrollt den Stoff.
Es ist ein Zeitungsausschnitt – der Ausschnitt, den sie in Bradwells Truhe gefunden und der ihr so sehr gefallen hat, der mit den Leuten mit den gefärbten Brillen im Kino, die aus kleinen Pappbechern aßen – das Foto, das ihre Hände auf unerklärliche Weise zum Zittern brachte. Das Foto, das sie betrachtet hat, als Bradwell zu ihr sagte, dass er solche wie sie kenne. Das Herz pocht schmerzhaft in ihrer Brust, sie atmet schwer. Ist es ein grausames Geschenk? Macht er sich über sie lustig?
Pressia muss sich beruhigen. Es ist nur Papier, sagt sie sich.
Doch es ist mehr als nur Papier. Es hat schon damals existiert, als Pressia noch einen Vater und eine Mutter hatte und als sie im
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