Memento - Die Überlebenden (German Edition)
sagt Hastings.
»Bis dann«, sagt Partridge.
Er wird in ein kleines weißes Zimmer geführt – ohne Fenster. Die Mumienform liegt auf dem Untersuchungstisch. Sie ist vollkommen glatt und hat ein Scharnier auf der Rückseite, sodass Partridge hineinklettern kann. Über und neben der Mumie sind Geräte – Roboterarme, Schläuche, Greifer – alles blitzblank poliert und chromglänzend. In einer Ecke steht ein Schreibtisch mit einem Computer und einem Bürostuhl auf Rädern. Auf dem Tisch ist eine Vase mit einer falschen Blume darin – Erinnerung an Zuhause oder an die Natur?, fragt sich Partridge. Im Kapitol sind solche Gefühlsduseleien nicht gerade häufig.
Plötzlich steigen Zweifel in Partridge auf. Er muss das nicht tun. Es muss keiner wissen. Er kann mit Hastings Abendbrot essen und Lyda fragen, ob sie ihm hilft, das Messer zurückzulegen. Er erinnert sich an das Gefühl ihrer Taille und ihrer Rippen, als er mit den Händen über das seidene Kleid strich, während sie sich küssten. Wie gerne würde er ihr honigsüßes Haar noch einmal riechen.
Wahrscheinlich hat inzwischen irgendjemand bemerkt, dass das Messer verschwunden ist. Ein Hausmeister oder ein Lehrer. Lyda könnte schon im Schulleiterbüro sitzen und verhört werden. Wenn Partridge geschnappt wird, wird sein Vater außer sich sein. Möglich, dass er von der Akademie fliegt. Dass er ins Therapiezentrum geschickt wird und mit jemandem wie Lydas Mutter reden muss, Mrs Mertz. Und Lyda? Sie wird auch Ärger kriegen, wenn man Partridge erwischt. Sie werden nicht lockerlassen, bis sie wissen, wie er die Vitrine öffnen konnte.
Er könnte Glassings ins Vertrauen ziehen. Aber was würde Glassings tun? Er würde ihn beiseitenehmen, mit ihm in die Bibliothek gehen und sich unter vier Augen mit ihm unterhalten. Glassings würde schwitzen, wie er das manchmal tut, kleine Schweißperlen auf der Stirn, die er nach hinten in die Haare streicht. Er würde ihm zweifellos empfehlen, den Mund zu halten. Er würde Partridge verstehen.
Die Mumienform liegt wartend da, ein perfekter Abdruck seines Körpers. Er ist überrascht, wie groß sie ist. Noch vor ein paar Jahren war er der Kleinste in seiner Klasse und ein bisschen pummelig obendrein. Die Mumienform ist so lang und schmal, dass sie zu jemand anderem zu gehören scheint, jemandem, der älter ist, mehr wie Sedge. Wenn Sedge noch am Leben wäre – wäre Partridge inzwischen größer als er? Er wird es niemals erfahren.
Er will zurück, aber es ist schon zu spät.
Er hat nur ein paar Minuten, bevor der Techniker eintrifft. Kühle Luft strömt durch die Schlitze. Er zieht den Bürostuhl vom Schreibtisch weg und schiebt ihn unter den Schacht. Dann stellt er sich auf den Stuhl, schraubt die Abdeckung über seinem Kopf los und schiebt sie in die Decke. Er greift nach oben, packt den Metallrahmen und drückt sich von der Sitzfläche ab, wobei er den Stuhl zurück zum Schreibtisch tritt. Er zieht sich hinauf in den dunklen Schacht. Auf Händen und Knien schiebt er die Abdeckung wieder über das Loch. Das wird niemanden lange täuschen, aber es reicht vielleicht, um ein paar Minuten zu gewinnen.
Es ist dunkler in den Luftschächten, als er erwartet hat. Und lauter. Das System arbeitet und vibriert manisch. Er kriecht, so schnell er kann. Bis zum ersten Satz Filter muss er kommen, bevor das System pausiert. Von da an hat er genau drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden, um den ersten Filter, die Reihe Ventilatoren und dahinter die zweite Barriere aus Filtern zu überwinden. Er muss sich seinen Weg in die Welt hinaus freischneiden. Falls er es rechtzeitig schafft, heißt das, und falls die Ventilatorblätter ihn bis dahin nicht in Stücke gehackt haben.
Genau wie in den Konstruktionszeichnungen abgebildet, kann er problemlos durch die Schächte kriechen, bis er den großen Haupttunnel der Luftfilteranlage erreicht. Hier kann er aufrecht stehen, sein Kopf berührt kaum die Decke. Die Blechpaneele sind vollkommen glatt und perfekt gerundet – ihm fällt das Wort Kesselpauke ein. Er ist nicht sicher, was es bedeutet. Was hat ein Kessel mit einer Pauke zu tun?
Direkt vor ihm ist die erste Reihe rosafarbener Filter, straff gespannt wie ein dichter, massiver Vorhang, und blockiert ihm den Weg. Partridge ist überrascht von der Farbe. Die Filter sind so rosig wie eine Zunge, und hier ist plötzlich alles hell erleuchtet. Er fragt sich warum. Wegen der Wartung?
Er zieht das Küchenmesser und denkt an Lyda, an ihre
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