Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Ölfass dort«, sagt sie, damit er sich beeilt.
Er wirbelt herum, sieht das Fass und rennt los. Er umrundet das Fass und bückt sich. Als er wieder hochkommt, hat er ihren Schuh. Er hebt ihn über den Kopf wie einen Preis.
»Hör auf damit!«, flüstert sie und wünscht sich nur, dass er schnell wieder in Deckung kommt.
Er rennt zu ihr zurück und kniet vor ihr nieder. »Hier«, sagt er. »Gib mir deinen Fuß.«
»Schon gut«, widerspricht sie. »Das kann ich selbst.« Ihre Wangen sind gerötet. Sie ist verlegen und zugleich wütend auf ihn. Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Er ist ein Reiner, der in Sicherheit gewesen ist, sein ganzes Leben lang, der es immer leicht gehabt hat. Sie kann ihren Schuh selbst anziehen. Sie ist kein Kind mehr. Sie bückt sich, reißt ihm unwirsch den Schuh aus der Hand und zieht ihn an.
»Was sagst du dazu: Ich habe dir geholfen, deinen Schuh zu finden, und du hilfst mir, die Lombard Street zu finden – oder das, was mal die Lombard Street war.«
Jetzt hat sie richtig Angst. Allmählich sickert die Tatsache ein, dass er ein Reiner ist und dass es gefährlich ist, in seiner Nähe zu sein. Die Neuigkeit, dass er hier ist, wird sich weiterverbreiten, und es gibt keine Möglichkeit, dies zu verhindern. Wenn die Leute erst herausfinden, dass es wahr ist, dann wird die Jagd auf ihn eröffnet, ob er sich als Zielscheibe hinstellt oder nicht. Manche werden ihn als Opfer für ihre Wut benutzen wollen. Er repräsentiert die Bewohner des Kapitols, die Reichen und Glücklichen, die die anderen zum Leiden und zum Sterben zurückgelassen haben. Andere werden ihn fangen und irgendwie Lösegeld für ihn erpressen wollen. Und die OSR wird ihn wegen seiner Geheimnisse haben wollen oder um ihn als Köder zu benutzen.
Auch sie hat ihre Gründe, oder etwa nicht? Wenn es einen Weg nach draußen gibt, dann gibt es auch einen Weg nach drinnen, nicht wahr? Das hat die alte Frau gesagt, und vielleicht ist es die Wahrheit. Sie weiß, dass der Reine nützlich sein könnte. Vielleicht kann sie ihn benutzen, um sich einen Vorteil bei der OSR zu verschaffen? Vielleicht könnte sie erreichen, dass sie sich nicht mehr stellen muss? Und wenn sie schon dabei ist, auch noch medizinische Hilfe für ihren Großvater verlangen?
Sie zupft am Ärmel ihres Pullovers. Das Kapitol wird vermutlich Leute schicken, die nach ihm suchen. Was, wenn sie ihn zurückwollen? »Hast du einen Chip?«, fragt sie.
Er reibt sich den Nacken. »Nein«, sagt er. »Ich habe als Kind keinen bekommen. Ich bin so jungfräulich wie am Tag meiner Geburt. Du kannst nachsehen, wenn du willst.« Die Chip-Implantate hinterlassen eine kleine vorstehende Narbe.
Sie schüttelt den Kopf.
»Hast du einen?«
»Er funktioniert nicht mehr. Nur ein toter Chip«, sagt sie. Sie trägt das Haar so lang, dass die Narbe bedeckt ist. »Sie würden hier ohnehin nicht funktionieren. Aber damals haben alle guten Eltern ihren Kindern einen Chip einsetzen lassen.«
»Willst du damit sagen, dass meine Eltern keine guten Eltern waren?«, entgegnet er halb im Scherz.
»Ich weiß nichts über deine Eltern.«
»Tja, ich habe jedenfalls keinen Chip. Das ist es doch, was du wissen wolltest. Wirst du mir nun helfen, oder was?« Er ist jetzt ein bisschen verärgert. Sie weiß nicht genau wieso, aber es freut sie, dass sie ihn reizen kann. Das gibt ihr ein bisschen mehr Macht.
Sie nickt. »Wir müssen die alten Karten benutzen, schätze ich. Ich kenne jemanden, der welche hat. Ich war auf dem Weg zu ihm. Ich kann dich mitnehmen. Vielleicht kann er helfen.«
»Klingt gut«, sagt er. »Wo lang?« Er dreht sich um und will zurück zur Straße.
Sie packt ihn an der Jacke. »Warte! Ich laufe nicht so mit dir rum!«
»Wie denn?«
Sie starrt ihn ungläubig an. »Ohne Tarnung.«
Er steckt die Hände in die Taschen. »Dann ist es also offensichtlich.«
»Natürlich ist es offensichtlich.«
Er schweigt kurz. Sie stehen da. »Was war das für ein Ding, das mich angegriffen hat?«, fragt er schließlich.
»Ein Mehrling. Ein großer obendrein. Jeder hier draußen ist irgendwie verformt, mit irgendwas verschmolzen. Keiner von uns ist noch das, was er mal war.«
»Und du?«
Sie wendet den Blick von ihm ab und spricht weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Die Haut der Menschen ist oft übersät mit Sachen. Scharfen Glassplittern zum Beispiel. Oder Plastik, das irgendwann hart wird und jede Bewegung erschwert. Metall, das rostet.«
»Wie der Blechmann«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher