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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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der Reine.
    »Wer?«
    »Der Blechmann. Eine Figur aus einem Buch und diesem alten Film«, sagt er.
    »So was haben wir hier nicht mehr. Es ist nicht viel übrig.«
    »Richtig«, sagt er. »Was bedeutet dieses Singen?«
    Sie hat es verdrängt, doch er hat recht. In der Ferne sind immer noch die Sprechgesänge vom Kesseltreiben zu hören, herbeigetragen vom Wind. Sie zuckt die Schultern. »Vielleicht singen die Leute bei einer Hochzeit«, sagt sie. Sie ist nicht sicher, warum sie so was sagt. Haben die Leute früher bei Hochzeiten gesungen, vielleicht bei der kirchlichen Hochzeit ihrer Eltern und dem Empfang unter weißen Zelten? Singen sie immer noch oben im Kapitol?
    »Du musst vor den Trucks der OSR auf der Hut sein.«
    Er lächelt.
    »Was ist daran so lustig?«
    »Dass es sie wirklich gibt. Wir wussten im Kapitol, dass sie existiert. OSR. Sie hat angefangen als ›Operation Suche und Rettung‹, eine Art Miliz, die die Ordnung aufrechterhalten wollte, und dann wurde sie zu einer Art faschistischem Regime. Die ›Operation‹ … wie nennt sie sich jetzt?«
    »›Sakrale Revolution‹«, sagt Pressia tonlos. Sie kann nicht anders, sie hat das Gefühl, auf den Arm genommen zu werden.
    »Richtig«, sagt er. »Das ist es.«
    »Hältst du das für drollig, oder was? Sie werden dich umbringen. Sie werden dich foltern, dir eine Pistole in den Rachen schieben und dich umbringen. Verstehst du das?«
    Er scheint es zu akzeptieren. »Ich schätze, du hasst mich«, sagt er. »Ich könnte es dir jedenfalls nicht verdenken. Historisch betrachtet …«
    Pressia schüttelt den Kopf. »Bitte … keine pauschale Entschuldigung, ja? Ich brauche deine Schuldgefühle nicht. Du bist reingekommen – ich nicht. Ende der Geschichte.«
    Sie schiebt die Hand in die Tasche und spürt den harten Rand der Glocke. Sie überlegt, ob sie eine etwas freundlichere Bemerkung hinzufügen soll, um seine Schuldgefühle zu mildern, irgendetwas wie: Wir waren schließlich noch Kinder, als es passiert ist. Was hätten wir ändern können? Was hätte irgendjemand ändern können? Doch dann beschließt sie, es nicht zu tun. Seine Schuldgefühle verschaffen ihr ebenfalls einen Vorteil. Abgesehen davon sind seine Schuldgefühle nicht ganz unbegründet, nicht wahr? Wie ist er ins Kapitol gekommen? Welches Vorrecht hatte er? Sie versteht genug von Bradwells Verschwörungstheorien, um zu begreifen, dass hässliche Entscheidungen getroffen worde waren. Warum sollte sie nicht dem Reinen ein bisschen die Schuld geben?
    »Du musst die Kapuze aufsetzen und dir den Schal vors Gesicht binden«, sagt sie zu ihm.
    »Ich will versuchen, nicht aufzufallen.« Hastig wickelt er sich den Schal um den Hals, bedeckt sein Gesicht und zieht die Kapuze über. »Besser so?«, fragt er.
    Eigentlich ist es nicht genug. Etwas in seinen grauen Augen macht ihn anders, etwas, das er womöglich nicht beeinflussen, nicht ändern kann. Wird nicht jeder auf den ersten Blick sehen, dass er ein Reiner ist? Pressia ist sicher, dass sie ihn durchschauen würde. Er strahlt Hoffnung aus, auf eine Weise wie sonst niemand hier, aber es ist auch eine tiefe Traurigkeit in ihm. In mancherlei Hinsicht wirkt er jedoch überhaupt nicht wie ein Reiner. »Es ist nicht nur dein Gesicht«, sagt sie zu ihm.
    »Was denn noch?«, will er wissen.
    Sie schüttelt den Kopf, lässt das Haar über die Seite ihres Gesichts fallen, um die Narben zu verdecken. »Nichts«, sagt sie. Und dann, ohne nachzudenken, fragt sie: »Warum bist du hergekommen?«
    »Mein Zuhause«, sagt er. »Ich versuche, mein Zuhause zu finden.«
    Das macht Pressia auf unerklärliche Weise wütend. Sie zieht den Pullover bis unter das Kinn. »Zuhause«, sagt sie. »Hier draußen, außerhalb des Kapitols, in der Lombard Street.«
    »Genau.«
    Er hat sein Zuhause verlassen. Er ist weggegangen. Er hat nicht verdient, es wiederzufinden. Sie beschließt, das Thema zu wechseln. »Wir müssen durch die Trümmerfelder, uns bleibt keine andere Wahl«, sagt sie zu dem Reinen. Sie versucht seinem Blick auszuweichen. Sie strafft die Socke und zupft am Ärmel ihres Pullovers. »Wir könnten Bestien begegnen oder Dusts, die versuchen, uns zu töten, aber wenigstens sind wir nicht auf den Straßen, wo die anderen herumstreifen, die dich fangen wollen. Außerdem geht es schneller.«
    »Mich fangen?«
    »Es hat sich schon herumgesprochen, dass du hier bist. Die Gerüchte brodeln nur so. Und wenn die Mehrlinge vorhin nicht allesamt zu benebelt waren, um dein

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