Memento - Die Überlebenden (German Edition)
ausgebrannten Ruinen hoch und runter, über die Trümmerfelder mit ihren Rauchfahnen, die gerade hinaufsteigen in die nächtliche Luft, dann wieder zu den Ruinen. Er sieht hinauf in den Himmel, als versuchte er, sich auf diese Weise zu orientieren. Schließlich wirft er sich die Tasche an dem langen Trageriemen über die Schulter und schlingt sich den Schal um den Hals. Er blickt zu den Trümmerfeldern und setzt sich in dieser Richtung in Bewegung.
Pressia zieht die Wollsocke über ihrer Puppenkopffaust hoch und den Pulloverärmel herunter, dann tritt sie aus ihrer Deckung.
»Nicht«, sagt sie. »Das schaffst du nicht.«
Er wirbelt erschrocken herum, dann fällt sein Blick auf sie. Er ist offensichtlich erleichtert, dass sie kein Mehrling und keine Bestie ist und auch kein Soldat der OSR – obwohl sie bezweifelt, dass er auch nur den Namen all dieser Dinge weiß. Wovor sollte man sich auch fürchten dort, wo er herkommt? Weiß er überhaupt, was Furcht ist? Hat er Angst vor Geburtstagskuchen und vor Hunden mit Sonnenbrillen und neuen Autos mit großen roten Reklametafeln darauf?
Sein Gesicht ist glatt und klar, und seine Augen sind von einem blassen Grau. Sie kann kaum glauben, dass sie einem Reinen gegenübersteht – einem lebendigen, atmenden Reinen.
Verbrenn einen Reinen und atme die Asche,
Nimm seine Därme und mach eine Tasche,
Spinn seine Haare und mach einen Strick,
Und koch seine Knochen zu Seife dick …
Das ist es, was ihr in den Sinn kommt. Kinder singen das Lied quasi ununterbrochen, aber niemand hält es für möglich, je einen Reinen zu Gesicht zu bekommen, ganz egal, wie viele dumme Gerüchte es gibt. Nie im Leben. Sie fühlt sich, als wäre etwas Leichtes, Luftiges, Beschwingtes in ihrer Brust, eingesperrt wie Freedle in seinen Käfig, wie der selbst gemachte Schmetterling in ihrem Sack.
»Ich will zur Lombard Street«, sagt er in diesem Moment. Er ist ein bisschen außer Atem. Pressia fragt sich, ob seine Stimme anders ist, von einer anderen Qualität – klarer, reiner? Die Stimme von jemandem, der nicht seit Jahren Asche eingeatmet hat? »Zehn-vierundfünfzig Lombard Street, um genau zu sein. Große Reihenhäuser mit schmiedeeisernen Toren.«
»Es ist nicht klug, ohne jede Deckung mitten auf der Straße zu stehen«, erklärt Pressia. »Das ist gefährlich.«
»Das habe ich gemerkt.« Er macht einen Schritt auf sie zu, dann hält er inne. Eine Seite seines Gesichts ist ein bisschen mit Asche eingestaubt. »Ich weiß nicht, ob ich dir trauen sollte«, sagt er. Das ist nachvollziehbar. Beinahe hätten die Mehrlinge ihn erledigt – kein Wunder, dass er nervös ist.
Sie streckt ihm den nackten Fuß hin. »Hier. Ich hab meinen Schuh geworfen, um die Mehrlinge abzulenken. Sie hätten dich umgebracht. Einmal hab ich dich also schon gerettet.«
Er sieht die Straße hinunter zu der Stelle, wo sie ihn herumgestoßen haben. Dann geht er zu Pressia in die Seitengasse. »Danke«, sagt er und lächelt. Seine Zähne sind gerade und strahlend weiß, als hätte er sein ganzes Leben nur frische Milch getrunken und sonst nichts. Sein Gesicht ist aus dieser Nähe noch verblüffender wegen seiner Vollkommenheit. Sie vermag nicht zu sagen, wie alt er ist. Er scheint älter zu sein als sie, doch in anderer Hinsicht scheint er jünger. Sie will nicht, dass er ihr Gaffen bemerkt, deswegen senkt sie den Blick. »Sie hätten mich zerrissen«, sagt er. »Ich hoffe, ich bin deinen verlorenen Schuh wert.«
»Ich hoffe, mein Schuh ist nicht verloren«, sagt sie und wendet sich ein wenig ab, um die Narbe in ihrem Gesicht zu verbergen.
Er zupft am Riemen seiner Tasche. »Ich helfe dir bei der Suche nach deinem Schuh, wenn du mir bei der Suche nach der Lombard Street hilfst.«
»Es ist nicht mehr so einfach, Straßen zu finden, weißt du? Wir benutzen keine Straßennamen mehr.«
»Wo hast du deinen Schuh hingeworfen? In welche Richtung?«, fragt er und geht zurück Richtung Hauptstraße.
»Nicht«, sagt sie, obwohl sie den Schuh doch braucht, das Geschenk von ihrem Großvater, das vielleicht sein letztes war. Sie hört einen Motor, östlich, und einen anderen in der anderen Richtung. Und da ist immer noch einer in der Nähe, oder ist es ein Echo? Er sollte sich verstecken, jeder kann ihn sehen. Das ist gefährlich. »Lass es!«
Aber er steht schon wieder mitten auf der Straße, breitet die Arme aus und deutet in entgegengesetzte Richtungen, als wollte er sich zu einer lebenden Zielscheibe machen.
»Das
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