Memento - Die Überlebenden (German Edition)
zu der Wache.
Die Wache zieht sich zurück. Sie schließt die Tür behutsamer, als Pressia es für möglich gehalten hätte. Leise klickend rastet das Schloss ein.
»So«, sagt der große Mann. »Ich bin El Capitán. Das hier ist das Hauptquartier. Ich habe hier das Sagen.«
»Habe hier das Sagen«, sagt der schmächtige Kopf hinter seinem Rücken.
El Capitán ignoriert ihn. Er pickt am Hähnchenfleisch, schiebt sich mehr davon in den fetten Mund. Pressia wird bewusst, dass sie am Verhungern ist. »Wo haben sie dich gefunden?«, fragt El Capitán, während er ein kleineres Stück Fleisch über die Schulter hält und den kleineren Mann auf seinem Rücken füttert, direkt in den Mund, fast wie einen jungen Vogel.
»Ich war unterwegs«, sagt Pressia.
Er sieht sie an. »Das ist alles?«
Sie nickt. »Warum hast du dich nicht von allein gemeldet?«, fragt El Capitán. »Wirst du gerne gejagt?«
»Mein Großvater ist krank.«
»Weißt du, wie viele Leute sich damit rausreden wollen, dass jemand aus ihrer Familie krank ist?«
»Ich schätze, es gibt ziemlich viele Leute, die Kranke in der Familie haben … wenn sie überhaupt eine Familie haben, heißt das.«
Er neigt den Kopf, und sie ist nicht sicher, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten soll. Er wendet sich wieder seinem Hähnchen zu. »Die Revolution kommt, und so lautet meine Frage: Kannst du töten?«, fragt er, ohne eine Miene zu verziehen. Es ist, als würde er aus einer Rekrutierungsbroschüre vorlesen. Er ist nicht mit dem Herzen bei der Sache.
Die Wahrheit ist, Hunger hat etwas an sich, das in Pressia den Wunsch weckt, jemanden umzubringen. Es blitzt in ihr auf, dieses hässliche Verlangen. »Ich kann lernen, wie man tötet.« Sie ist erleichtert, dass ihre Hände noch hinter ihrem Rücken zusammengebunden sind. So kann er die Puppenkopffaust nicht sehen.
»Eines Tages werden wir sie niederwerfen«, sagt er. Seine Stimme klingt weich. »Das ist alles, was ich mir wünsche, wirklich. Ich würde zu gerne selbst einen Reinen erledigen, bevor ich sterbe. Nur einen einzigen.« Er seufzt, trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Und dein Großvater?«, fragt er.
»Es gibt nichts mehr, das ich noch für ihn tun könnte«, sagt Pressia. Ihr dämmert, dass es die Wahrheit ist, und sie fühlt sich merkwürdig erleichtert. Zugleich steigen Schuldgefühle in ihr auf. Er hat die Fleischkonserve und die rote Orange von der Frau, die er genäht hat, außerdem eine letzte Reihe selbst gemachter Metalltierchen, die er zum Tauschen benutzen kann.
»Ich verstehe wie das ist mit Familienangelegenheiten«, sagt El Capitán. »Helmud hier …«, er deutet auf den kleinen Mann hinter sich, »… mein Bruder. Ich würde ihn töten, aber er ist Familie.«
»Ich würde ihn töten, aber er ist Familie«, sagt Helmud und verschränkt die dürren Ärmchen unter dem Kinn wie ein Insekt. El Capitán reißt einen Schenkel aus dem Hähnchen und hält ihn hoch, damit Helmud daran nagen kann – allerdings nur einen kleinen Bissen, dann zerrt er ihn wieder zurück. »Andererseits«, sagt er, »du bist klein. Als hättest du noch nie eine anständige Mahlzeit gegessen. Du würdest es nicht schaffen. Wenn es nach mir ginge, meinem Gefühl, würde ich sagen, dass du nützlich bist, aber nur als Zielscheibe.«
Pressias Magen zieht sich zusammen. Sie denkt an den einbeinigen Jungen. Vielleicht ist der Unterschied zwischen ihm und ihr gar nicht so groß.
El Capitán beugt sich vor, rutscht mit den Ellbogen über den Tisch. »Es ist mein Job, diese Entscheidungen zu treffen, verstehst du? Glaubst du, mir gefällt das?«
Sie ist sich nicht sicher, ob es ihm gefällt oder nicht.
Er dreht sich um und brüllt Helmud an. »Hör endlich auf damit, kapiert?«
Helmud starrt ihn aus aufgerissenen Augen erschrocken an.
»Er ist ständig am Fummeln! Nervöse Finger! Ständig am Fummeln! Du treibst mich noch in den Wahnsinn, Helmud, mit deinem nervösen Tick! Verstehst du, was ich sage?«
»Verstehst du, was ich sage?«, wiederholt Helmud.
El Capitán zieht eine Akte vom Stapel. »Es ist eigenartig, weißt du? Hier in deiner Akte steht, dass du Offizier wirst. Auf höheren Befehl. Hier steht, wir sollen dich nicht brechen, und ich soll dich direkt in die Ausbildung stecken.«
»Tatsächlich?«, fragt Pressia. Es kommt ihr wie ein schlechtes Omen vor. Weiß die OSR etwa von ihrer Verbindung zu dem Reinen? Warum sonst sollte man sie bevorzugen? »Offiziersausbildung?«
»Die
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