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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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ihr zu. Niedergeschlagen. Benommen. Haben sie darauf gewartet? Die Wache trägt das Gewehr nicht mehr in der Armbeuge. Sie hat es auf Pressia gerichtet.
    »Pressia Belze?«, fragt sie.
    Pressia würde sich gerne aufsetzen und Ja sagen, doch sie kann nicht. Klebeband über dem Mund, zusammengerollt auf der Seite liegend wie eine Krabbe kann sie nur nicken.
    Die Wache kommt herbei und reißt Pressia am Oberarm auf die Beine. Pressia folgt ihr aus dem Zimmer, wirft dabei noch einen Blick zu den anderen Jugendlichen. Keiner sieht ihr in die Augen, bis auf einen Jungen. Pressia sieht jetzt, dass er ein richtiger Krüppel ist – eines seiner Hosenbeine ist leer. Es ist nichts drin, und sie weiß, dass er es nicht schaffen wird. Nicht als Soldat und vielleicht nicht einmal als lebendes Ziel.
    Selbst wenn das hier ein ehemaliges Krankenhaus ist, heute ist es längst keines mehr, und vielleicht haben sie die Bleiche benutzt, um den Gestank nach Tod zu überdecken. Pressia versucht dem Jungen ein Lächeln zuzuwerfen, ein kleines Zeichen von Freundlichkeit, doch mit dem zugeklebten Mund kann er beim besten Willen nichts davon erkennen.
    Die Wache ist breit und gedrungen. Sie ist gezeichnet von Brandnarben, ein heller rosiger Farbton im Gesicht, am Hals und an den Händen. Pressia fragt sich, ob die Narben ihren gesamten Körper bedecken. Sie hat ein Loch in der Wange mit einer alten Münze verschlossen. Sie geht neben Pressia her, und aus keinem erkennbaren Grund rammt sie Pressia den Kolben ihrer Waffe in die Rippen. Als Pressia vornüberkippt, sagt die Wache noch mal: »Pressia Belze, pah!« Hasserfüllt, als wäre es ein Fluch, eine Verwünschung.
    Die Türen entlang dem Gang stehen fast ausnahmslos offen, und in jedem Raum stehen Pritschen, auf denen uniformierte Kids liegen und warten. Es ist still, bis auf das leise Murmeln der Kids, die quietschenden Federn der Liegen und das Scharren von Stiefeln.
    Pressia erkennt jetzt auch, dass dieses Gebäude sehr alt ist – die gefliesten Korridore, der Stuck, die alten Türen, die hohen luftigen Decken. Sie passieren eine Art Lobby mit einem fadenscheinigen Teppichläufer und einer Reihe hoher Fenster. Das Glas ist lange verschwunden, und der Wind wirbelt durch die dünnen, ausgefransten Vorhänge, die grau sind von Asche. Es ist die Sorte Raum, in der Leute gewartet haben, dass jemand zu ihnen gebracht wurde – ein Verwandter im Rollstuhl, jemand, der gestützt werden musste, vielleicht jemand, der geisteskrank war. Anstalten, Sanatorien, Therapiezentren – sie hatten eine Menge Namen.
    Und dann waren da noch die Gefängnisse.
    Draußen vor den Fenstern sieht Pressia zusammengenagelte Holzplanken, eine Steinmauer mit Stacheldraht auf dem Sims und ein Stück weiter weiße Säulen, die im Nichts stehen. Wie weiße Stängel.
    Die Wache bleibt vor einer Tür stehen und klopft.
    »Herein!«, ruft eine Männerstimme unwirsch und träge.
    Die Wache öffnet die Tür und versetzt Pressia einen weiteren Stoß mit dem Gewehrkolben. »Pressia Belze«, sagt sie, und weil es das Einzige ist, was Pressia bis jetzt aus ihrem Mund gehört hat, fragt sie sich, ob es vielleicht das Einzige ist, was sie sagen kann.
    Hinter der Tür steht ein Schreibtisch, hinter dem ein Mann sitzt. Oder besser gesagt, zwei Männer. Einer von ihnen ist groß und massig. Er sieht sehr viel älter aus als Pressia, doch es fällt ihr schwer, sein genaues Alter zu schätzen angesichts der vielen Brandnarben. Vielleicht ist er gar nicht so sehr viel älter als sie. Der andere Mann scheint in ihrem Alter zu sein, doch auch er ist merkwürdig alterslos wegen seines leeren Blicks. Der größere Mann trägt eine graue Uniform, er ist Offizier, und er isst ein gebratenes Huhn von einem Blechteller. Der Kopf des Huhns ist noch dran.
    Der Mann in seinem Rücken, mit dem leeren Blick, ist viel kleiner. Er ist dort mit dem großen Mann verschmolzen. Seine dürren Arme hängen über den Hals des großen Mannes, ein schmächtiger Brustkasten in einem breiten Rücken. Pressia fällt der Fahrer des Trucks wieder ein und der zweite Mann, der ständig hinter ihm zu schweben schien. Vielleicht ist das hier dieser Fahrer mit seinem Begleiter.
    »Nimm ihr den Knebel ab«, befiehlt er der Wache. »Sie muss reden.« Die Finger des Mannes glänzen vom Hähnchenfett. Seine Nägel sind schmutzig.
    Die Wache reißt Pressia brutal das Klebeband vom Mund. Pressia leckt sich über die Lippen und schmeckt Blut.
    »Du kannst gehen«, sagt er

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