Memo von Meena (German Edition)
wissen, wie SIE über ein Thema denken und nicht, wie Ihrer Meinung nach ICH darüber denke.
Oliver:
Aber es geht doch um die Leser und die wissen nicht, dass ich nicht Sie bin.
Meena:
Vielleicht möchte ich auch einfach nur gern überrascht werden.
Oliver:
Überrascht werden? Das heißt, Sie lesen meine Kolumne?
Meena:
MEINE Kolumne, Herr Staude. Nicht IHRE.
Oliver:
Eben haben Sie noch gesagt, dass es Sie im Moment nichts angeht. Praktisch sind Sie gar nicht existent, wenn ich mich recht erinnere.
Meena:
Trotzdem war, ist und bleibt es meine Kolumne.
Oliver:
Niemand will Sie Ihnen wegnehmen.
Meena:
Einigen wir uns darauf, dass ich mich gerne von den Themen überraschen lasse, die SIE für MEINE Kolumne auswählen.
Oliver:
Ein Glück, dass Nachrichten so überhaupt nicht aufwühlend sind.
*
Das Ausbleiben ihrer Antwort verunsicherte ihn, trotzdem schwor er sich, ihr nicht nachzulaufen. Wenn sie es nicht für nötig hielt, seine Bemühungen um die Kolumne ernst zu nehmen, hatte er das gute Recht, dies als Freifahrtschein für seine eigene Gedankenlosigkeit bei der künftigen Suche nach Themen zu verstehen. Keine Fragen mehr, ob er in ihrem Sinne handelte. Keine Skrupel bei dem Vorhaben, in eine Rolle zu schlüpfen, die so viel mit ihm zu tun hatte wie der Juni mit Schnee. Ganz gleich, welcher Name über der Kolumne stand, für den Moment war es seine.
Er griff nach seinem Handy und las ihre Nachricht zum mittlerweile fünften Mal.
Einigen wir uns darauf, dass ich mich gerne von den Themen überraschen lasse, die SIE für MEINE Kolumne auswählen.
Überraschungen. Vielleicht war es das, worauf es im Leben ankam.
Kapitel 9: Überzeugend weiblich
Das Büffet erstreckte sich wie eine gigantische Farbpalette durch das Foyer des Hotels. Er hatte den gesamten Vor- und Nachmittag damit verbracht, unzählige Audioaufnahmen zu prüfen und dabei außer ein paar Krabbenchips, die vom chinesischen Essen des Vorabends übriggeblieben waren, nichts zu sich genommen. Umso schwerer fiel es ihm nun, die Lachsröschen und Filetspitzen nicht direkt neben den Servierplatten zu verschlingen.
Während er, der Schlange folgend, seinen Teller mit Fleischhäppchen, Salaten und Gratin befüllte, hielt er nach einem Platz Ausschau, der eine möglichst geringe Gefahr für lästige Gespräche ausstrahlte. Es war das 20jährige Bestehen des Magazins und die erste Feierlichkeit seit seiner Einstellung – ein eigentlich besonderes Ereignis, dem er unter anderen Umständen sicher mit Vorfreude entgegengesehen hätte. Das unentwegte Auseinandersetzen mit den Memos für die Kolumne – vor allem aber mit der Person, die hinter den Memos steckte – machte es ihm jedoch schwer, sich zu entspannen. Hinter jedem Gesicht, das ihm begegnete, versuchte er instinktiv eine Verbindung zu Meena herauszulesen, hinter jedem Gesprächsfetzen einen Anhaltspunkt auf ihre Arbeit aufzuschnappen. Immerhin arbeitete sie seit mittlerweile sechs Jahren für das Ariella’s Choice , noch dazu war sie so etwas wie der leuchtende Stern des Magazins, da war es nur naheliegend, dass sie mit dem Großteil der Anwesenden auch irgendeine Geschichte verband. Ein gemeinsamer Frauenabend? Durchzechte Nächte? Vielleicht sogar eine Liaison mit einem der männlichen Kollegen?
An einem Tisch am Fenster, der noch unbesetzt war, nahm er schließlich Platz.
"Beeindruckende Ansprache, oder?" Eine männliche Stimme riss ihn aus den Gedanken.
"Ja, sehr beeindruckend", antwortete Oliver, während er leicht irritiert zur Kenntnis nahm, dass ein dunkelblonder Hüne, scheinbar kaum älter als er, neben ihm Platz genommen hatte.
"Rajas Reden sind immer ein Erlebnis", fuhr der Hüne fort. "Allerdings wäre ich dafür, das Büffet immer erst nach ihrer Ansprache aufzubauen. Der Geruch von gebratenem Fleisch verkürzt meine Aufmerksamkeitsspanne doch enorm."
"Gute Idee." Oliver bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln.
"Sie sind der Neue, oder? Der Mann, dessen Aufgabe es ist, die einzigartige Meena zu imitieren."
Oliver nickte. "Ganz richtig. Staude. Oliver Staude. Freut mich."
"Ich bin Marc", antwortete er. "Marc Pielau. Fotograf und strenger Verfechter der Theorie, dass Siezen überbewertet wird."
"Meine Daseinsberechtigung scheint sich ja bereits herumgesprochen zu haben", sagte Oliver.
"Klar. Niemand kann Meena ersetzen, ohne dass sich die wenigen Menschen, die es wissen, die Mäuler darüber
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