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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leni Riefenstahl
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Traverse näherten. Ich spürte nun doch Erregung in mir aufsteigen. Vor mir sah ich eine fast grifflose, senkrechte Wand. Ungefähr zwanzig Meter über mir erblickte ich Heckmair, wie er nach Griffen und Tritten tastete - er kam nur langsam voran. Tief unter mir stand Xaver. Ich versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken und ruhig zu atmen. Da hörte ich Anderls Stimme, der mich aufforderte, nachzukommen.
      Es ging besser, als ich gedacht habe. Bald war ich bei ihm oben. Inzwischen war Xaver nachgeklettert und stand eine Seillänge unter mir. Obgleich ich gesichert war, wurde die Situation ungemütlich; ich stand an einem sehr exponierten Platz, konnte nur mit den Zehenspitzen auf winzigen Tritten stehen und hatte auch für die Finger keinen guten Griff. Es war die Stelle, an der die gefährliche Traverse begann. Ich beobachtete, wie Heckmair, an der Traverse balancierend, sich immer weiter von mir entfernte, bis er am Ende um die Ecke verschwand.
      Dann hörte ich ihn: «Leni, nachkommen!» Er hatte ein Doppelseil gespannt, so daß ich mich daran festhalten konnte. Als ich aber in der Mitte der Traverse war, bewegte sich das Seil nicht mehr, es hatte sich verklemmt. Ich konnte keinen Zentimeter mehr weiterklettern, weder vorwärts noch rückwärts. Dabei stand ich, die Beine wie in einer Spagatstellung weit auseinandergespreizt, mich nur mit den Zehenspitzen haltend, den Körper fast überhängend, an der Wand und fürchtete, jeden Augenblick Beinkrämpfe zu bekommen. In dieser Stellung mußte ich ausharren, bis Heckmair die Stelle fand, an der sich das Seil verklemmt hatte. Es schien mir eine Ewigkeit, bis Anderl das Seil frei bekam und ich aus meiner Stellung erlöst wurde.
      Danach wurde das Klettern leicht, so daß mir die Führung der letzten Seillängen anvertraut wurde. Als wir den Gipfel betraten, konnten wir uns kaum der Freude, ihn geschafft zu haben, hingeben, denn schon dämmerte es und Blitze kündigten ein Gewitter an. Wir mußten so schnell wie möglich hinunterkommen. Da es schon dunkel wurde und es schwierig war, die Abseilstellen zu finden, ging es viel zu langsam.
      Die Blitze kamen näher, und in Sekundenschnelle hatte uns das Gewitter erreicht. Es wurde stockdunkel, der Donner war fürchterlich. Nachdem wir uns einige Male abseilen konnten und das Wetter immer schauerlicher wurde, suchte Anderl vergeblich nach einer Abseilstelle. Er fand keine und seilte sich von uns ab; er hielt es für zu gefährlich, mit uns auf die andere Seite des Turms zu traversieren. Wir sollten hier auf ihn warten. Der Platz, an dem wir standen, war exponiert, zu klein um es hier längere Zeit aushaken zu können. Inzwischen wütete der Sturm wie ein Orkan.
      Wir warteten und warteten, aber Anderl kam nicht zurück. Als wir auf unser Rufen keine’ Antwort erhielten, befürchteten wir das Schlimmste. Unsere Situation verschlimmerte sich noch, weil es nun zu hageln anfing. Die Eisstücke waren so scharf und groß, daß sie unsere Kleider zerrissen und uns verletzten. Meine feste Windjakke, die am Piz Palü manche Schneestürme überlebt hatte, zerfetzte der Hagel in wenigen Minuten. Wir konnten hier nicht länger stehenbleiben, wir mußten versuchen, auch ohne Heckmair hinunterzuklettern. Nur wenn es blitzte, konnten wir uns abwärts bewegen. Als wir eine Zeitlang geklettert waren, stand plötzlich Anderl vor uns, der, durch Blitze erhellt, wie ein beleuchtetes Gespenst wirkte. Ich glaubte, es müßte eine Halluzination sein. Aber dann konnten wir befreit aufatmen und unter seiner Führung weiter hinunterklettern.
      Der Hagel hatte aufgehört, das Gewitter ließ nach. Unsere Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und langsam tastend stiegen wir ab. Jetzt stand Xaver tief unter mir und im Dunkeln nicht erkennbar, Heckmair über mir, der beim Abstieg als letzter ging, um uns zu sichern. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, und entsetzt sah ich einen dunklen Körper auf mich zustürzen. In diesem Bruchteil einer Sekunde erlebte ich unseren Absturz. Über mir, vielleicht nur zwei Meter entfernt, hing Anderl an einem Felszacken, an dem er in seinem Sturz hängengeblieben war. Ein unvorstellbarer Glücksfall. Wäre das nicht geschehen, hätte es uns drei in den Abgrund gerissen. Wir waren alle mit dem Seil verbunden, aber weder Xaver noch ich hatten uns in der Dunkelheit sichern können. Erst später erfuhren wir, was den Sturz ausgelöst hatte. Ais Anderl sich abseilte, ging der

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