Memoiren 1902 - 1945
fühlten wir uns unbeschwert und konnten uns ganz auf die Arbeit konzentrieren. Ich glaube, eine kleinere Filmkarawane für einen Spielfilm hat es noch nicht gegeben, aber auch keine sparsamere. Schon die Hotelunterkunft belastete uns nicht - es gab kein Hotel. Und eine Gastwirtschaft auch nicht. Das ganze Dorf hatte neun erwachsene Bewohner, einige Kinder, zwei Kühe, ein Schaf, eine Ziege und etliche Katzen. Die meisten Häuser standen leer. Vor Jahren waren viele Bewohner nach Amerika ausgewandert.
Jeder von uns konnte also ein Haus für sich mit Beschlag belegen.
Eine Pritsche und eine Wasserschüssel war der ganze Luxus, den wir brauchten. Welch ein Gefühl, als es nun an die Arbeit ging und wir die ersten Spielszenen am Wasserfall besprachen! In großer Ruhe, ohne Überstürzung, konnten wir schaffen. Niemand stand hinter uns, um uns zu drängen, keine Firma hatte einen Aufpasser gestellt. Wir waren unsere eigenen Herren. Oft drehten wir nur wenige Minuten am Tag, um am Wasserfall einen bestimmten Lichteffekt zu bekommen.
An jedem Aufnahmetag entwickelten wir ein kurzes Filmstückchen zur Probe, um zu sehen, ob wir die Stimmung richtig getroffen hatten. Abends saßen wir in einem der halb zerfallenen Häuser am Kaminfeuer und besprachen die Szenen. Es war eine echte Gemeinschaftsarbeit. Vier Wochen hatten wir gutes Filmwetter, und so konnten wir fast täglich drehen. Dann schickten wir die ersten 3000 Meter Film zum Entwickeln nach Berlin und warteten gespannt auf das Ergebnis. Nach einigen Tagen erhielt ich ein Telegramm, das ich kaum zu öffnen wagte - zu viel hing von dem Inhalt ab, aber dann riß ich es auf. Mein Blick fiel zuerst auf die Unterschrift, ich las «Arnold». Das konnte nur Fanck sein.
«Gratuliere, die Aufnahmen sind unbeschreiblich - nie gesehene Bilder.» Was für ein Wunder. Diese Worte von Fanck, der mir fast den Mut genommen hätte, diesen Film zu machen. Ich war außer mir. Dann gab es eine noch größere Überraschung. Ein zweites Telegramm von Sokal: «Nach Besichtigung der Aufnahmen bin ich bereit, als Copartner mitzumachen und die Endfinanzierung dieses Films zu übernehmen unter der Bedingung, daß du die Verantwortung für die Herstellungskosten des Films übernimmst. - Harry Sokal.»
Wir umarmten uns vor Freude und tanzten wie wild gewordene Affen vor dem Postamt. Ich war so sehr von dem Gelingen dieses Films überzeugt, daß mir kein Risiko zu groß erschien. Ich telegrafierte an Sokal:
«Einverstanden, schicke mir Vertragsentwurf, Leni.»
Wir arbeiteten mit noch größerem Auftrieb. Wir durften dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Auch wurde es für mich immer mehr eine Existenzfrage, da ich die Verantwortung für die Herstellungskosten übernommen hatte, ohne zu wissen, wie hoch die Endkosten sein würden. Die Kosten für die Kristallgrotte, die Synchronisation und die Musikaufnahmen waren noch nicht errechnet. Ohne die Op ferbereitschaft meiner Mitarbeiter hätte ich es nicht schaffen können. Wir waren wie eine Familie. Alles wurde aus einer gemeinsamen Kasse bezahlt. Jeder bemühte sich, sowenig wie möglich zu verbrauchen, um die Kasse solange wie nur denkbar am Leben zu erhalten. Hatte einer zerrissene Schuhsohlen oder brauchte er sonst etwas Dringendes, wurde es aus dieser Kasse bezahlt. Anfang August traf Mathias Wieman bei uns ein, zwei Wochen später Bela Balazs, der einige meiner Spielszenen überwachen wollte. Es war ein ideales Zusammenarbeiten. Nie gab es schlechte Laune oder einen Streit.
In der Brenta-Gruppe der Dolomiten drehten wir vor allem die Kletterszenen. Eines Morgens hatten wir dort ein tolles Erlebnis. Wir sahen auf einem schmalen Felsband in großer Höhe ein Rudel von mehr als vierzig Gemsen, angeführt von einer großen schneeweißen Gemse. Es war wie in einem Märchen. Der Hüttenwirt sagte, es sei außerordentlich selten, diese sagenumwobenen Tiere lebend zu sehen. Ausgestopft war eine im Gasthaus in Madonna di Campiglio zu bewundern.
Wir wohnten in einer hoch in den Felsen gelegenen primitiven Almhütte, Brot und Käse waren unsere tägliche Mahlzeit. Selbst hier verzichteten wir nicht auf das Entwickeln der Filmproben, allerdings ging das nicht in der Almhütte vor sich. Zwei unserer Leute mußten täglich nach Sonnenuntergang ins Tal nach Madonna di Campiglio laufen, wo sie die Proben entwickeln konnten. Oft kamen sie erst um Mitternacht zurück. Um fünf Uhr früh am nächsten Morgen konnte ich die
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