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Memoria

Memoria

Titel: Memoria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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gab es eine viel tiefere und feinsinnigere Symbolik, die mir einfach entging.
    Wir fuhren mit dem Aufzug in die zwanzigste Etage und wurden in Corliss’ Büro eingelassen. Hier erlebte ich zwei kleine Schocks.
    Der erste war, Corliss nach all den Jahren wiederzusehen. Ich wusste natürlich, was er durchgemacht hatte – es war passiert, nachdem ich Mexiko bereits verlassen hatte, aber es war damals beim FBI Thema Nummer eins gewesen, mit allen grausigen Details –, aber dennoch hatte ich nicht damit gerechnet, dass er so stark gealtert war. Das heißt, nicht einfach gealtert, er wirkte ausgelaugt. Der Hank Corliss, den ich damals gekannt hatte, war ein zäher, eigensinniger und insgesamt unangenehmer Kerl gewesen, mit einem scharfen Verstand hinter einem Paar scharfer Augen, denen nichts entging. Der Mann, der uns jetzt hinter seinem Schreibtisch empfing, war wie ein blasses Abbild des Burschen, an den ich mich erinnerte. Sein Gesicht war ausgemergelt, seine Haut aschgrau und faltig, und er hatte tiefe schwarze Ränder unter den Augen. Seine Bewegungen waren langsam, und meine Großmutter hatte, als sie auf die achtzig zuging, einen kräftigeren Händedruck gehabt als er.
    Der zweite Schock war die Anwesenheit von Jesse Munro. Zwei Geister aus der Vergangenheit, zwei Wiedergänger aus einem unliebsamen Kapitel meines Lebens. Munro war allerdings um keinen Tag gealtert. Teufel, ich wusste ja, wie viel Zeit er im Fitnessstudio zubrachte, um seinen gestählten Körper in Form zu halten. Er war ganz so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Dichtes blondes Haar, das mit Gel glatt zurückgekämmt war, tiefe Bräune, offenes Hemd über einem weißen T-Shirt mit weitem V-Ausschnitt, in dem die oberen Brustmuskeln zu sehen waren, und in diesem Ausschnitt glänzte eine schwere Goldkette. Dazu natürlich dieses dämliche, großspurige Grinsen, das er bei jeder Gelegenheit zeigte.
    Corliss winkte uns alle zu einer Sitzgruppe gegenüber seinem Schreibtisch.
    «So», begann er und musterte mich, als sei ich zu einem Bewerbungsgespräch angetreten. «Wie ich höre, leisten Sie drüben in New York gute Arbeit. Mir scheint, der Wechsel dorthin hat Ihnen wirklich gutgetan, wie?»
    Das ironische Lächeln, das dabei über sein Gesicht huschte, verstärkte den Unterton seiner Worte. Nicht dass ich auch nur eine Sekunde lang geglaubt hatte, er habe unsere hitzigen Auseinandersetzungen in Mexiko vergessen. Damals war ich rasend wütend auf mich selbst gewesen, weil ich einen unbewaffneten amerikanischen Staatsbürger getötet – exekutiert – hatte, Wade McKinnon, von dem ich kaum mehr wusste, als dass er ein genialer Chemiker war, der für einen Drogenboss namens Navarro irgendeine Superdroge entwickelt hatte. Munro war auch bei dieser unseligen Mission dabei gewesen, und er hatte in jener Nacht noch schlimmere Dinge getan, Dinge, für die niemand ungestraft bleiben dürfte. Aber während Munro nach unserer Rückkehr keine Gewissensbisse zu plagen schienen, fiel es mir schwer, das, was ich getan hatte, zu verarbeiten. Es fraß mich innerlich auf, bis ich an dem Punkt war, irgendeine Wiedergutmachung leisten zu wollen. Vielleicht herausfinden, ob McKinnon Angehörige hinterlassen hatte, sie wissen lassen, was geschehen war, es mir von der Seele reden und Vergebung erlangen oder mich meiner verdienten Strafe stellen. Corliss und die übrigen Schlipsträger hingegen hatten keine solchen Bedenken und scherten sich einen Dreck um die Dämonen, die mich verfolgten. Vor allem aber wollten sie nicht, dass ich etwas ausplauderte. Also köderten sie mich mit einer Versetzung in die New Yorker Dienststelle, wo sie mir eine leitende Position in der Terrorbekämpfung in Aussicht stellten. Sie wussten, dass ich mir so etwas kaum entgehen lassen konnte. Nachdem ich mich endlose Tage lang mit Grübeleien herumgequält hatte, ergriff ich am Ende die Gelegenheit – zugegebenermaßen nichts, worauf ich besonders stolz bin –, und hier saßen wir nun, fünf Jahre später, und der gespensterhafte Schatten des Corliss von damals betrachtete selbstzufrieden die Lage.
    Wie auch immer, ich wollte gerade antworten, es habe wohl uns beiden gutgetan, aber in Anbetracht dessen, was ihm nach meinem Weggang zugestoßen war, kam es mir nicht über die Lippen. Stattdessen entschied ich mich für ein unverbindliches Friedensangebot.
    «Es war ein echter Aufstieg.»
    Er betrachtete mich forschend, als sei er unsicher, was er darauf erwidern sollte, dann setzte er

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