Memoria
Hauptsache, sie lieferten ihm, was er brauchte.
Er würde es bald erfahren.
Als er zu Walker hinüberschaute und den großen, kräftigen Mann ins Telefon grummeln sah, trafen sich ihre Blicke. Walkers Gesicht war noch immer eine starre Maske, etwas zwischen versteinert und sehr ernst. Er strich mit seinen fleischigen, schwieligen Fingern über seinen krausen Ziegenbart und nickte Navarro kurz beruhigend zu. Navarro erwiderte das Nicken kühl und wie im Einverständnis, doch in Wirklichkeit hatte er bereits einen gewaltigen Brocken des Respekts verloren, den er einmal für die Fähigkeiten des Bikers aufgebracht hatte. Gleich in dem Moment, als er mit seinen zwei Handlangern erschien und Walker ihn nicht erkannte. Dabei war Navarro sich vollauf bewusst, dass er dem Mann mit diesem Urteil unrecht tat. Der plastische Chirurg hatte an seinem Gesicht so hervorragende Arbeit geleistet, dass Navarros eigene Mutter – wenn sie ihren Sohn nach der Geburt überhaupt noch gesehen und nicht gleich im Stich gelassen hätte – ihn nicht erkannt hätte. Niemand erkannte ihn, und das war schließlich Sinn und Zweck der ganzen langen, schmerzhaften Prozedur gewesen. Dennoch hatte er auf irgendeine widersinnige Weise von Walker mehr erwartet. Er hatte gewollt, dass der Mann ihn erkannte. Das hätte seinen Scharfsinn deutlich unter Beweis gestellt. Aber Walker hatte die Täuschung ebenso wenig durchschaut wie die Handvoll anderer Männer aus Navarros Vergangenheit, denen er sich gezeigt hatte. Und nachdem seine Aktien seit dem ersten Fehlschlag im Haus der Frau ohnehin bereits im Fallen waren, hieß das nichts Gutes für den Biker.
Navarro hoffte, dass der Mann nicht noch tiefer sinken würde.
«Okay, gute Arbeit», hörte er Walker sagen. «Bleibt an ihm dran und haltet mich auf dem Laufenden.»
Walker beendete das Gespräch und sah ihn an.
Navarro begegnete seinem Blick mit hochgezogener Augenbraue, eine stumme Aufforderung zu berichten.
«Meine Jungs sind Ihrem FBI -Mann auf den Fersen», teilte Walker ihm mit. «Er ist gerade auf dem Weg in die Stadt.»
Navarro nickte anerkennend, langsam und bedächtig, dann sagte er nur:
«Muy bien.»
Kapitel 19
Dank Villaverdes genauen Anweisungen dauerte es nicht lange, bis ich den großen Seeterminalkomplex erreicht und das Tor zu dem Zolllagerhaus gefunden hatte.
«Ich bin da», teilte ich ihm über die Lautsprecherfunktion meines BlackBerry mit.
«Okay, dann kann’s losgehen.»
Wie erhofft waren wenig andere Fahrzeuge in der Nähe und überhaupt keine Fußgänger. Ich setzte den Blinker absichtlich früh, um zu sehen, wie meine Verfolger reagieren würden. Sie verlangsamten sofort, ihre Limousine wurde im Rückspiegel kleiner und kleiner. Nachdem ich einen Containerlastwagen vorbeigelassen hatte, bog ich auf das Lagergelände ab, das auf der anderen Straßenseite lag. Dabei beobachtete ich, wie die Gangster gegenüber der Einfahrt am Straßenrand hielten.
Anscheinend wollten sie auf mich warten. Was bedeutete, dass sie sich von mir irgendwohin führen lassen wollten. Es musste um Michelle gehen. Offenbar waren sie noch immer hinter ihr her.
Während ich den Lastwagen abwartete, sah ich mir die äußere Begrenzung des Geländes an. Sie bestand aus einem knapp zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun, der nicht allzu schwer zu überklettern sein würde. Ich hielt am Torhaus und ließ das Fenster herunter, während der Wachmann behäbigen Schrittes heraustrat und auf mich zukam. Ich wusste, dass er Terry hieß, denn ich hatte eben noch mitangehört, wie Villaverde mit ihm telefonierte. Terry war in den Fünfzigern und wirkte nicht gerade besonders trainiert oder behände – der erste Begriff, der mir einfiel, war
Mammut.
Nur gut, dass ich ihn nicht als Unterstützung für meinen Überraschungsangriff eingeplant hatte.
«Terry, nicht wahr?» Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis, zum einen der Form halber und zum anderen, damit die Beobachter drüben an der Straße es sahen. Als ich bemerkte, dass er nervös wurde, fügte ich rasch hinzu: «Schauen Sie immer zu mir und verhalten Sie sich, als wäre nichts Besonderes, okay? Tun Sie so, als würden Sie mich fragen, worum es geht, ehe Sie mich reinlassen.»
«Okay.» Seine Augen traten vor Anspannung hervor, und er konnte sichtlich kaum widerstehen, über das Dach des LaCrosse einen Blick zu meinen Verfolgern zu werfen.
«Konzentrieren Sie sich ganz auf mich, Terry», mahnte ich mit ruhiger Stimme, «und beantworten Sie meine
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