Memoria
mehrere Ferienlager anbot, was bedeutete, Tess würde jemanden antreffen, mit dem sie sprechen konnte. Es gab auch eine Namensliste des Lehrkörpers, aber ein Dean war nicht darunter; überhaupt bestand das Kollegium überwiegend aus Frauen. Etwas Näheres über diesen Dean hatte Tess nicht aus Alex herausbekommen. So war sie mit dem Taxi zur Schule gefahren und hatte um ein Gespräch mit der Direktorin gebeten.
Ms. Cohen, eine hochgewachsene, elegante, grauhaarige Frau, die Tess an eine Figur aus einem Gemälde von Modigliani erinnerte, brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Dann erkundigte sie sich nach Alex, wie es ihm ging und was jetzt aus ihm werden sollte. Sie sagte zu Tess, sie kenne den Jungen zwar nicht persönlich, glaube sich aber zu erinnern, ihn und Michelle bei Schulveranstaltungen gesehen zu haben.
«Was kann ich für Sie tun?», fragte sie schließlich.
«Ich habe eine Zeichnung von Alex gefunden, die mich neugierig gemacht hat. Als ich ihn danach fragte, erzählte er, seine Mutter sei mit ihm zu einem gewissen Dean gegangen. Ich denke, es könnte sich um eine Art Pädagogen oder Psychologen gehandelt haben. Sagt Ihnen der Name etwas?»
Ms. Cohen schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, nein. Hier an der Schule ist kein Dean tätig. Was hat es denn mit dieser Zeichnung auf sich?»
«Ich weiß nicht recht. Sie zeigt Alex und noch jemanden, eine bedrohlich wirkende Gestalt. Und als ich ihn danach fragte, wollte er nicht darüber sprechen. Er wirkte ängstlich. Wie steht es mit seinen Lehrern, vielleicht wissen sie etwas?»
«Alex war im ersten Kindergartenjahr», sagte Cohen nach einem Blick auf ihren Computermonitor. «In Raum zwei, in Miss Fowdens Gruppe.»
«Und sie hat Ihnen gegenüber nie von ihm gesprochen?»
«Nein.»
Tess runzelte die Stirn. «Ist sie im Hause? Ich würde gern einmal mit ihr reden.»
Ms. Cohen schüttelte bedauernd den Kopf. «Sie arbeitet diesen Sommer nicht.»
«Es ist wirklich dringend. Kann ich sie telefonisch erreichen? Wissen Sie, ob sie verreist ist?»
Die Schulleiterin zögerte.
«Bitte. Es ist wichtig.»
Ms. Cohen lächelte. «Gewiss. Ich versuche es einmal.»
Sie griff zum Telefon, las auf dem Monitor die Nummer der Lehrerin und wählte. Tess wartete ungeduldig. Endlich sprach Ms. Cohen in die Leitung.
«Holly, hier ist Marlene. Ich habe hier eine Frau, die Sie dringend sprechen möchte. Es geht um Alex Martinez.»
Tess hörte entmutigt zu. Aus dem Tonfall der Schulleiterin schloss sie, dass diese nur den Anrufbeantworter der Lehrerin erreicht hatte.
Tess nannte ihre Handynummer, die Ms. Cohen ebenfalls auf das Band sprach. Dann dankte sie der Schulleiterin und verabschiedete sich.
Als sie zu dem wartenden Taxi zurückging, fühlte sie die Mittagshitze schwer und ermüdend auf sich lasten. In ihrer Erinnerung lief das Gespräch mit Alex noch einmal ab, und die Angst in seinem Gesicht verfolgte sie wie ein Gespenst.
Das beklemmende Gefühl wich auch nicht, als das Taxi losfuhr. Tess zog ihr iPhone hervor, um Jules Bescheid zu geben, dass sie auf dem Rückweg war. Doch dann hielt sie inne und starrte das Handy einen Moment lang an.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, und sie drückte die Speichertaste zwei. Reillys Nummer.
Wie immer meldete er sich sofort. «Alles okay?»
«Ja. Ich komme gerade von Alex’ Schule. Ich habe mit der Direktorin gesprochen. Es ist wirklich toll da. Nette Leute.» Sie wollte nicht wieder von der Zeichnung anfangen. «Sag mal, ihr habt doch Michelles Handy, nicht wahr?»
«Ja.»
«Könntest du mal nachsehen, ob da im Adressbuch oder im Kalender ein Dean eingetragen ist?»
«Warum?»
«Alex hat erwähnt, Michelle sei mit ihm zu einem Dean gegangen. Ich weiß nicht, wer es ist, aber … Vielleicht wäre es gut, mal mit ihm zu sprechen, meinst du nicht?»
Reilly schwieg einen Moment lang, dann erwiderte er: «Es geht um diese Zeichnung, nicht wahr?»
Tess fluchte innerlich. Er kannte sie entschieden zu gut. «Ja. Ich habe ihn danach gefragt, okay? Er hatte Angst, Sean. Er hatte ganz offensichtlich Angst und wollte nicht darüber sprechen. Alles, was ich aus ihm herausbekommen habe, war, dass Michelle ihn auch danach gefragt hat und mit ihm zu diesem Dean gegangen ist, um darüber zu reden. Dem sollte man doch nachgehen, oder nicht? Ich meine, was, wenn jemand ihn bedroht hat? Womöglich gibt es einen Zusammenhang zu dem, was Michelle zugestoßen ist?»
Reilly
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