Memoria
hatte, dass das Schlimme immer dicht unter der Oberfläche lauert, ob sichtbar oder unsichtbar.
«Ihre Tochter Naomi», fragte ich, «sie ist von Marty, nicht wahr?»
Bei der Erwähnung ihrer Tochter verhärteten sich Danis Gesichtszüge – mütterlicher Beschützerinstinkt –, aber als Martys Name fiel, wurde ihr Ausdruck wieder sanfter. Sie wich einen Moment lang meinem Blick aus, als stiegen Erinnerungen in ihr auf.
«Warum sind Sie hier? Hören Sie, Naomi hat keine Ahnung, wer ihr Vater war, und ich will auch nicht, dass sie es erfährt.»
In diesem Augenblick schaltete sich Munro ein. Perfektes Timing. Er legte beide Hände offen vor sich auf den Tisch und lächelte Dani herzlich an. «Wir sehen ja, was Sie sich hier aufgebaut haben. Und wir haben kein Interesse daran, Ihnen das kaputt zu machen. Wenn Menschen ein mieses Leben hinter sich lassen, einen Job finden, ein Kind aufziehen, ihre Steuern zahlen … dann erleichtert uns das die Arbeit ungemein. Ein vergeudetes Leben weniger ist ein gewaltsamer Tod weniger, den wir aufzuklären haben. Wenn all die Freundinnen, Ehefrauen und Mütter den Gangs einfach den Rücken kehrten, was glauben Sie, wie lange die Jungs durchhalten würden, ehe sie ihren Lebenswandel noch einmal gründlich überdenken?» Er sah sie mit einstudiert strahlendem, entwaffnendem Lächeln an.
Dani entspannte sich sichtlich. Munro hatte genau den richtigen Ton getroffen. Der Mistkerl verstand seinen Job.
Jetzt übernahm ich wieder. «Wir sind hier, weil wir nach Gary suchen.» Ich beobachtete, wie sie auf den Namen reagierte. Sie war sichtlich überrascht, wie ich es erwartet hatte. «Wir denken, dass er uns vielleicht helfen kann, die Kerle zu schnappen, die den Club ausgelöscht haben. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben wollen, aber wir haben es hier mit Verbrechern der übelsten Sorte zu tun. Sie haben auch einen Deputy umgebracht, oben in San Marcos. Der Mann hatte ein Kind in Naomis Alter.» Ich schwieg kurz, um meine Worte wirken zu lassen. «Wir nehmen an, dass Gary damals einen von ihnen kannte, und nach dem, was sie den Bikern angetan haben, würde er uns sicher helfen wollen, ihnen auf die Spur zu kommen. Das Problem ist, wir wissen nicht, wo er sich aufhält und wie wir ihn erreichen können. Deshalb brauchen wir Ihre Hilfe.»
Dani atmete tief durch, dann seufzte sie. Plötzlich schien sie sich in die unabänderliche Tatsache zu fügen, dass man seine Vergangenheit nie ganz hinter sich lassen kann.
«Er will nicht gefunden werden, und das ist für mich ganz in Ordnung. Ich komme gut ohne ihn und die anderen klar.» An Munro gewandt, fügte sie hinzu: «Wie Sie eben sagten.»
Er nickte ihr zu, anscheinend erfreut, dass sie zugehört hatte.
«Meine Eltern hätten mich beinahe enterbt, als ich anfing, mich beim Club rumzutreiben, aber als Marty umgebracht wurde, haben sie mich unterstützt. Ich glaube, sie waren dankbar, dass ich noch am Leben war. Sie passen auch jetzt noch auf Naomi auf, damit ich arbeiten gehen kann. Letztes Jahr habe ich meinem Vater eine Laseroperation an den Augen bezahlt. Er sagt, er sieht jetzt wieder besser als mit zwanzig.»
Sie war stolz auf das, was sie erreicht hatte. Zu Recht. Aber allmählich wurde klar, dass wir die Fahrt nach Chula Vista umsonst auf uns genommen hatten. Danis Blick schweifte ab. Munro und ich wussten aus Erfahrung, dass es das Beste war, sie einen Moment in Ruhe zu lassen. Schließlich kehrte ihre Aufmerksamkeit zurück. Ich beugte mich gespannt vor – mein Gefühl sagte mir, dass etwas in ihr aufgestiegen war.
«Ich weiß nicht, wo er ist. Er hat zu mir gesagt, ich und Naomi, wir würden ihm sehr fehlen und vielleicht würde eines Tages alles anders sein, aber der Tag ist noch nicht gekommen.»
Ich musste weiter bohren, ihr mit Fragen auf die Sprünge helfen. Vielleicht kam doch noch etwas an die Oberfläche. «Es gelingt nur selten jemandem, komplett von der Bildfläche zu verschwinden», sagte ich. «Die meisten übersehen irgendetwas. Irgendeine Kleinigkeit, eine Kontaktperson, etwas, das sie vielleicht einmal erwähnt haben. Denken Sie nach, Dani. Wenn es um Leben und Tod ginge und Sie ihn unbedingt erreichen müssten, wie würden Sie es anstellen?»
«Ich weiß nicht», erwiderte sie, sichtlich bemüht, sich etwas einfallen zu lassen. «Er wollte ein neues Leben anfangen.» Dann erhellte sich ihre Miene. «Vielleicht … Eins könnten Sie versuchen. Nachdem ich
Weitere Kostenlose Bücher