Menetekel
sich eine Bewegung spürte, wandte sie sich um. Pater Hieronymus trat zögernd näher. Er kniete neben ihr nieder, sah auf den toten Finch hinab.
Sie bekam eine Gänsehaut.
Was hat er vor?
Angespannt sah sie zu, wie er sich vorbeugte, seine Hände über Finch hielt und in stummem Gebet die Augen schloss. Für einen flüchtigen, absurden Moment dachte sie, Zeugin eines Wunders zu werden, dachte sie, dass Vater Hieronymus gleich in Kontakt mit den Himmelsmächten treten und ihren Freund von den Toten zurückholen würde. Ihr Herz machte einen Satz, und sie versuchte, so lange an dieser verrückten Hoffnung festzuhalten, wie es nur ging, dachte an all die anderen Dinge der Unmöglichkeit, die sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Sie redete sich ein, dass alles möglich war, hielt mit wilder Verzweiflung daran fest, sogar, als er ihr so schnell entglitt, wie er gekommen war, ausgetrieben vom Anblick des verunstalteten, leblosen Körpers und der kalten Logik, mit der sie den Dingen auch sonst begegnete. Der Schmerz überwältigte sie erneut, betäubte alles in ihr.
Pater Hieronymus öffnete die Augen und schlug über Finchs Kopf das Kreuzzeichen. Er sah Gracie mit tiefer Trauer an und nahm ihre Hände. «Es tut mir so leid», sagte er schlicht.
Ihm waren seine Erschütterung und auch Schuldgefühle anzusehen. Gracie nickte. Er stand auf und ging mit schleppenden Schritten zu seinen Mitbrüdern zurück. Gracie sah zu Dalton und dann zur Spitze des Festungsturms hinauf. Die sandfarbene Kante hob sich scharf vom klaren, blauen Himmel ab. Das Motiv hätte sich für eine Postkarte oder für einen Bildband geeignet, so irritierend perfekt war der Anblick in eindrucksvollen Pastellfarben – viel zu perfekt, um als Kulisse für einen so grausigen Tod herzuhalten.
«Wie …», stammelte sie. «Wie konnte er da nur herunterfallen?»
Dalton schüttelte langsam den Kopf. «Ich habe keine Ahnung.» Seine Augen waren weit aufgerissen. «Wurde vielleicht von draußen auf ihn geschossen? Ist er erschossen worden?»
Gracie sah ihn entsetzt an und beugte sich wieder zu Finch hinunter. Dalton kauerte sich neben sie. Sie gab sich einen Ruck und drehte ihn mit zitternden Händen herum. Auch vorn war keine Schusswunde zu erkennen.
«Sieht nicht danach so. Ich hab auch keinen Schuss gehört. Du?»
«Nein.» Nun sah auch Dalton zum Dach der Feste hinauf. «Die Brüstung ist extrem niedrig. Vielleicht hat er sich vorgebeugt, um uns zu sagen, dass er es gefunden hat, und dabei …»
Gracie sah sich auf dem Boden um. Das Satellitentelefon schimmerte nur ein, zwei Meter entfernt. Es steckte halb im Sand. Sie sah sich weiter um und entdeckte den kleinen, schwarzen Kasten neben der Festungsmauer. Finchs Blackberry. Sie stand auf, nahm das Satellitentelefon, ging kraftlos zur Mauer hinüber. Sie hob auch das Blackberry auf, wischte mit den Fingern den Sand ab und stellte sich Finchs letzte Momente auf dem Dach vor, wie er es gefunden hatte und dann an die Dachkante getreten war, um – was zu machen? Ein letztes Mal runterzugucken? Zu winken? Sie wünschte sich, es hätte einen Weg gegeben, zurückzugehen und ihn daran zu hindern, dort hinaufzusteigen und sein Leben mit grausamer Plötzlichkeit zu beenden. Aber den gab es nicht. Sie hatte im Laufe ihres Lebens zahllose Tode miterlebt und vor langer Zeit gelernt, ihre Endgültigkeit zu akzeptieren.
«Was machen wir jetzt?», fragte sie. Sie sah durch einen Tränenschleier hindurch Dalton an und dann zu dem Trupp der Mönche hinüber, zu Pater Hieronymus, dem Abt, Bruder Amin.
«Wir müssen gehen.» Daltons Stimme klang ausdruckslos.
«Und Finch? Wir können ihn doch nicht einfach hier liegenlassen.»
«Mitnehmen können wir ihn erst recht nicht», sagte er sanft. «Das ist nicht drin.»
Nach einem Moment nickte sie. «Du hast recht.» Sie sah den Abt an. «Können Sie …?»
Er nickte und ersparte ihr so, es auszusprechen. «Selbstverständlich.Wir sorgen dafür, dass er nach Hause kommt … wie es sich gehört.» Er hielt inne, als wollte er sichergehen, dass sie damit einverstanden war, dann sah er zu dem Transporter und den Männern hinüber, die sich darum drängten. Gracie folgte seinem Blick. Immer noch waren leise die Drohreden im Radio zu hören, ein unheilvoller Sirenengesang.
«Sie sollten jetzt gehen», fügte der Abt hinzu. «Wie geplant.»
Während Gracie und Dalton sich mit ihrer Ausrüstung beluden, hoben ein paar Mönche unter Mithilfe des Fahrers
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