Menetekel
zurück.
«Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen den Platz weggenommen habe», sagte der Priester.
«Nein, das ist schon in Ordnung.» Dalton reichte Gracie ihren Kaffee. «Ich muss sowieso mit dem Piloten reden. Um mal zu hören, wie es weitergeht.»
Gracie nickte kurz, um zu zeigen dass sie einverstanden war. Sie sah ihm nach, als er ins Cockpit ging, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Priester zu. «Sie sagten gerade, ich hätte Glück gehabt?»
«Ich kenne das Gefühl, sich verloren zu fühlen. Seit ich den Sudan verlassen habe, hatte ich selbst oft das Gefühl, dahinzutreiben. Wusste nicht recht, wo ich war, was ich tat. Es war … hart», sagte er vage. «Und nun das …» Er lächelte schief. «Was mich nur noch mehr verwirrt.» Er winkte ab und sah sie an.
Sie betrachtete ihn, beugte sich vor. «Oben auf dem Dach,wie war das für Sie?» Sie dachte an sein verblüfftes Gesicht. «Hatten Sie irgendeine Kontrolle über das, was geschah?»
Er schüttelte sanft den Kopf. «Es war für mich ebenso fremdartig wie für Sie und alle anderen auch. Nur eines daran ist mir ganz klar.»
«Und was?»
«Wenn ich tatsächlich das Glück habe, auserwählt worden zu sein, dann muss ich meine Zweifel besiegen und Gottes Gnade und Vertrauen akzeptieren. Ich darf weder davor zurückschrecken noch es leugnen. Es geschieht aus einem ganz bestimmten Grund. Es muss doch aus einem ganz bestimmten Grund geschehen.» Er beobachtete ihre Reaktion und fügte hinzu: «Was meinen Sie denn, was hier gerade geschieht?»
«Ich habe keine Ahnung. Aber es ist merkwürdig, es mitzuerleben. Hier zu sein und dafür zu sorgen, dass es live um die Welt geht. Echtes Beweismaterial für das unerklärliche Phänomen zu haben, ein Wunder zu dokumentieren, anstatt bloß …» Sie zögerte, weil sie nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte. «… in irgendwelchen fragwürdigen Schriften darüber zu lesen, die ein paar tausend Jahre alt sind.»
«In ‹fragwürdigen› Schriften?» In seinem Gesicht stand eher Neugierde als Missbilligung.
Gracie sah kurz weg. «Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Vater. Ich glaube nicht an Gott. Und damit meine ich nicht bloß die Bibel oder die Kirche. Obwohl die mich auch nie überzeugt haben.»
«Warum nicht?»
«Das habe ich wohl von meinen Eltern. Sie waren nicht gläubig, man hat mich also auch nicht religiös erzogen. Und meist rührt es ja aus der Kindheit her, nicht wahr?»
Er nickte.
«Die Sache ist die – und nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Pater –, bei den wenigen Gelegenheiten, in denen ich in die Kirche gegangen bin, ist mir nie ein Priester begegnet, bei dem ich das Gefühl hatte, ihm vertrauen zu können. Ich hatte nie den Eindruck, dass sie aus den richtigen Gründen dort waren, und keiner konnte mir eine ehrliche, intelligente oder überzeugende Antwort auf die Fragen geben, die ich ihnen stellte, nicht einmal auf die einfachsten.»
«Zum Beispiel?»
«Wie viel Zeit haben Sie denn mitgebracht?», scherzte sie. Er erwiderte ihr Lächeln und forderte sie auf, weiterzureden. «Jedenfalls, als ich alt genug war, um mir meine eigenen Gedanken zu machen, gab ich meinen Eltern recht. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, Pater, aber historisch hält das alles nicht stand, seien wir doch ehrlich. Diese ganzen Geschichten, vom Garten Eden bis hin zur Auferstehung … das sind Mythen. Archetypisch, kunstvoll, eindrücklich – aber eben Mythen. Ich habe es wirklich versucht. Ich wollte gern glauben. Ich suchte Trost, brauchte eine Stütze. Aber je mehr ich las, je mehr ich recherchierte, desto deutlicher erkannte ich das billige Theater dahinter, desto klarer wurde mir, dass der Glaube rings um mich herum in Wirklichkeit aus einem Haufen alter Geschichten bestand, die vor ein paar tausend Jahren von ein paar ziemlich schlauen Leuten zusammengeschustert worden sind, um eine abergläubische Welt zu verbessern– und ihre Machtposition zu stärken. Wir reden hier über wirklich schlicht gestrickte Menschen. Anderthalbtausend Jahre später warfen die Leute immer noch Hexen auf den Scheiterhaufen. Es damals geglaubt zu haben, ist also die eine Sache. Aber heute? Bei allem, was wir wissen? Obwohl wir das menschliche Genom entschlüsselt und Raumsonden bis an den Rand des Sonnensystems gesandt haben?» Sie seufzte. «Und dann passiert das hier, und auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher.» Sie sah ihn an.
Pater Hieronymus nickte langsam. «Nicht an die eine
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