Menetekel
oder andere Religion zu glauben, ist völlig verständlich. Zumal für eine gebildete Frau wie Sie. Außerdem können sie ja schlecht alle recht haben, nicht wahr?» Er schmunzelte, dann wurde er wieder ernst. «Aber Sie sagten gerade etwas ganz anderes. Etwas viel Grundsätzlicheres. Sie sagten, dass Sie nicht an Gott glauben.»
Gracie hielt seinem Blick stand und nickte. «Das tue ich auch nicht. Habe ich nie getan. Aber seit ein paar Tagen weiß ich nicht mehr, was ich glauben oder nicht glauben soll.»
«Warum sollte man denn nicht an Gott glauben, abseits der Religion? An die Vorstellung von etwas Wunderbarem und Unfassbarem – und die ganzen Assoziationen beiseiteschieben, die religiöse Menschen mit dem Wort
Gott
verbinden.»
«Logik. Es lässt sich alles auf die einfache Frage nach der Henne und dem Ei reduzieren. Der einzige Grund – die einzige Notwendigkeit –, an Gott zu glauben, liegt in dem Versuch einer Erklärung nach dem Ursprung, richtig? Woherwir kommen. Wohin wir gehen. Aber so einfach ist das nicht. Wenn es einen Schöpfer gab, dann muss es vor ihm noch einen Schöpfer gegeben haben, der ihn erschaffen hat. Und davor noch einen. Und immer so weiter. Das hält keiner Überprüfung stand.» Sie überlegte, dachte an etwas weniger Abstraktes. Eine tiefverwurzelte Traurigkeit breitete sich in ihr aus. «Und dann starb meine Mutter. Ich war damals dreizehn. Brustkrebs. Sie hatte fünf Jahre lang keine Beschwerden mehr gehabt, und dann kam er einfach zurück und brachte sie innerhalb von zehn Tagen um. Es war … brutal. Und ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand etwas so Hässliches erschaffen und einen so wunderbaren Menschen einfach auslöschen konnte.» Obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren, stiegen ihr Tränen in die Augen.
«Das tut mir leid.»
«Es ist lange her.» Sie sah ihn an, unsicher, ob sie es ansprechen sollte. Dann tat sie es doch. «Als wir im Kloster waren, als Sie sich neben Finch niedergekniet haben … Für einen Moment dachte ich, Sie …»
«Ich brächte ihn wieder ins Leben zurück?»
Sein Einfühlungsvermögen verblüffte sie. «Ja.»
Er nickte, als hätte er denselben Gedanken gehabt. «Ich muss gestehen … ich war mir auch nicht sicher. Was ich würde tun können.» Er sah sie ratlos an.
«Genau das meine ich ja. Das ist es, was ich nicht verstehe. In der einen Minute erhalten wir eine rätselhafte Botschaft, irgendwoher, nennen wir es ruhig Gott. Wir schöpfen Hoffnung, wir sind beflügelt, wir staunen … und im nächsten Moment wird ein durch und durch guter Menscheinfach so aus dem Leben gerissen. Wie damals, als meine Mutter gestorben ist. Es gab auf der ganzen Welt keine so gute, so freundliche Seele wie sie. Und ich konnte einfach nicht verstehen, wie so etwas geschehen durfte, wenn ein höheres Wesen über uns wachte. Es ließ sich in keiner Weise rechtfertigen. Ich habe damals mit einigen Kirchenmännern geredet. Sie hatten nur die üblichen Sprüche für mich. Dass sie jetzt ‹beim Herrn› wäre und er uns ‹prüfen› wolle und all die anderen Platituden, die sich ehrlich gesagt total unsinnig anhörten. Ihre Worte bedeuteten mir gar nichts.»
Pater Hieronymus nickte nachdenklich. «Der Grund, dass Ihnen niemand helfen konnte, war ihre eigene Ratlosigkeit. Prediger benutzen seit Hunderten von Jahren dieselben Worte, um Menschen Trost zu spenden. Aber die Zeiten haben sich geändert.» Er hielt inne, als würden ihn seine Worte selbst schmerzen. «Das ist das Problem der Kirche. Sie hat sich nicht weiterentwickelt. Und anstatt offen zu sein und nach Möglichkeiten zu suchen, in der heutigen Welt eine Rolle zu spielen, geht sie in die Defensive und verschanzt sich hinter irgendwelchen Kalendersprüchen, die den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen. Oder reduziert sich auf den Fundamentalismus.»
«Aber Sie können die Religion gar nicht mit dem modernen Leben versöhnen, mit all unserem Wissen und den Erkenntnissen der Wissenschaft. Beantworten Sie mir doch nur mal folgende Frage: Glauben Sie an die Evolution? Oder denken Sie, vor sechstausend Jahren wären Menschen und Dinosaurier gemeinsam auf diesem Planetenherumgelaufen … nachdem er in sechs Tagen erschaffen wurde?»
Vater Hieronymus lächelte. «Ich habe viele Jahre in Afrika gelebt, Miss Logan –»
«Bitte sagen Sie Gracie zu mir», unterbrach sie ihn.
Er nickte. «Ich bin bei Ausgrabungen gewesen, ich habe Fossilien gesehen, ich habe mich mit den
Weitere Kostenlose Bücher