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Menetekel

Menetekel

Titel: Menetekel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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angesichts der Reinheit und der Wucht der gewaltigen Ödnisdieses Tals Gottes Gegenwart spürten. Aber sosehr er auch in den endlosen Nächten in der Höhle darüber nachdachte, er konnte sich nicht erklären, was ihn dazu gebracht hatte, das Waisenhaus zu verlassen – das er gerade erst eröffnet hatte, Hunderte von Meilen weiter südlich, ein Stück hinter der Grenze zum Sudan. Vielleicht gab es keine Erklärung. Vielleicht war es einfach der Ruf einer höheren Macht, dem er hatte folgen müssen.
    Und dennoch   … fürchtete er sich.
    Ihm war klar, dass dazu kein Anlass bestand. Es war eine Gnade Gottes, ein Segen. Ihm war ein Weg offenbart worden, und auch wenn er nicht verstand, wohin die Reise führte, so war es doch eine große Ehre, dass ihm solche Gnade zuteilwurde. Und dennoch   …
    Die Nächte schreckten ihn am meisten. Er erwachte in kalten Schweiß gebadet, geweckt vom Heulen des Windes oder vom Kläffen der wilden Hunde, die das unfruchtbare Bergland durchstreiften. In solchen Momenten war er sich seiner extremen Isolation am deutlichsten bewusst. Der Berg war ein fürchterlicher Ort. Kaum etwas überlebte hier. Die frühen Asketen, die Eremiten, die sich von der Menschheit zurückgezogen und lange vor ihm in der Höhle gelebt hatten, waren hierhergekommen, um Gott näher zu sein, in dem Glauben, dass der einzige Weg zur Erleuchtung, der einzige Weg, Gott zu erfahren, in der Abgeschiedenheit lag. Oben auf dem zerklüfteten, nackten Fels hatten sie den Verlockungen ausweichen und sich von allen Spuren irdischen Begehrens frei machen können, um sich auf das Einzige zu konzentrieren, was sie Gott näher brachte: das Gebet. Aberdamit war der Berg zum Schlachtfeld geworden. Sie hatten in der Überzeugung für die Menschheit gebetet, dass ein jeder Mensch fortwährend von Dämonen bestürmt würde – allen voran sie selbst. Und je höher sie ihr Bollwerk aus Gebeten errichteten, desto stärker wähnten sie sich dem Ansturm der Mächte des Bösen ausgesetzt.
    Bevor er auf den Berg kam, hätte Pater Hieronymus abgestritten, diese reichlich düstere Weltsicht zu teilen. Aber nach mehreren Monaten in der Einsiedelei und den Höllenqualen der einsamen Reflexion war er da nicht mehr so sicher.
    Dennoch musste er diesen Weg weitergehen. Er musste die vor ihm liegenden Herausforderungen annehmen, anstatt vor ihnen zurückzuweichen.
    Das war seine Berufung.
    Tagsüber ging es besser. Wenn er nicht auf dem Berg war, verbrachte er seine Zeit in stiller Einkehr, betend oder schreibend. Noch etwas, das er nicht verstand, das ihm Angst machte.
    Das Schreiben.
    Anscheinend wollte der Strom von Worten, von Gedanken und Ideen und Bildern – von einem bestimmten Bild vor allem – kein Ende mehr nehmen. Und wenn die Inspiration kam, euphorisierend und furchteinflößend zugleich, dann konnte er die Wörter gar nicht schnell genug aufschreiben. Und doch war er sich nicht sicher, woher sie kamen. Sein Verstand dachte, seine Hand schrieb sie nieder, und doch war es, als kämen sie von anderswo, als strömten sie durch ihn hindurch wie durch ein Gefäß, das Sprachrohreines höheren Wesens oder klügeren Geistes. Und auch das war eine Gnade. Denn die Schönheit der Worte war über jeden Zweifel erhaben, auch wenn er aufgrund seiner persönlichen Glaubenserfahrung nicht mit allem einverstanden war.
    Er nahm den Anblick der in der Morgensonne leuchtenden Gipfel in sich auf, dann schloss er die Augen, neigte den Kopf in den Nacken und ordnete seine Gedanken. Wenig später setzte der Strom von Worten ein. Er blieb nie aus. Pater Hieronymus hörte ihn so deutlich, als säße jemand neben ihm und flüstere sie ihm ins Ohr.
    Er lächelte, versunken, konzentriert. Die aufgehende Sonne wärmte sein Gesicht, während er die Worte in sich aufnahm, die ein Wunder waren, eine Offenbarung.

KAPITEL 11
    BOSTON, MASSACHUSETTS
    Schneeflocken bestäubten den schwachbeleuchteten Gehweg, als Bellinger vor der kleinen Bar aus dem Taxi stieg. Die Emerson Street in South Boston war eine ruhige, schmale Straße.
    Es war schon spät, und ihm schlug eisige Kälte entgegen. Kein Wunder kurz vor Weihnachten, aber dieser Winter versprach besonders hart zu werden. Als Bellinger sich umdrehte, um in die Bar zu flüchten, stieß er mit einer Frau zusammen, die plötzlich aus dem Halbdunkel aufgetaucht war. Hektisch wich sie aus und entschuldigte sich, dann lief sie an ihm vorbei und rief nach dem Fahrer. Bellinger erhaschte einen Blick auf ihr sanftes,

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