Menetekel
schwarzen Soutane hervorragte, leuchtete kurz mitseiner Taschenlampe ins Fenster und spähte hinein, dann zog er sich einen Schritt zurück. Er drehte sich zu Amin um, weil er nicht wusste, was nun zu tun war. Der Jüngere zuckte die Schultern. Er wusste es auch nicht.
Der Abt hob die Hand, die eher vor Anspannung als vor Kälte zitterte, und klopfte zögernd an. Keine Antwort. Er sah seine Begleiter kurz an und klopfte erneut. Wieder geschah nichts.
«Wartet hier», sagte er. «Vielleicht kann er uns nicht hören.»
«Ihr geht hinein?», fragte Amin.
«Ja. Verhaltet euch ruhig. Ich möchte nicht, dass er erschrickt.»
Amin und Yusuf nickten.
Der Abt holte tief Luft, hob den Haken an und öffnete die Tür.
Im Innern der Einsiedelei war es dunkel und kalt. Es handelte sich um eine natürliche Kalksteinhöhle, und die Kammer, in der der Abt nun stand – die erste von dreien –, war überraschend groß. Es standen ein paar einfache, handgemachte Möbelstücke darin: ein primitiver Lehnstuhl, davor ein flacher Tisch und ein paar Schemel. Am Fenster ein Schreibtisch mit einem zweiten Stuhl. Der Abt beleuchtete die Ecke mit der Taschenlampe. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes liniertes Notizheft mit einem Füller darauf. Auf einem Bord beim Fenster fand sich ein kleiner Stapel weiterer solcher Notizhefte, alle sehr zerlesen.
Ein einziges Mal hatte er die hektische, gedrängte Schrift gesehen, mit der ihre Seiten gefüllt waren; zufällig, sie wärenihm nie gezeigt worden. Er dachte daran, wie das Ganze vor einigen Monaten unvermittelt angefangen hatte.
Wie sie ihn gefunden hatten.
Und auf welche wundersame Weise er zu ihnen gekommen war.
Wundersam
– das Wort besaß plötzlich einen ganz anderen Klang.
Der Abt schob die Erinnerungen beiseite und wandte sich um. Das alles konnte warten.
Er richtete den Lichtstrahl auf den Boden und lauschte einen Augenblick lang bewegungslos. Nichts war zu hören. Mit langsamen, zögernden Schritten ging er tiefer in die Höhle hinein, bis er zu der Nische kam, in der das schmale Bett stand.
Es war leer.
Der Abt fuhr herum, suchte mit der Taschenlampe die Höhlenwände ab. Sein Herz klopfte wild.
«Pater Hieronymus?» Seine Stimme bebte. Die Worte klangen hohl, als sie von den Wänden widerhallten.
Keine Antwort.
Verblüfft kehrte er in die Hauptkammer zurück und stellte sich vor eine Wand.
Seine Hand zitterte, als er die Taschenlampe nach oben richtete, wo die Wand sanft in die kuppelartige Decke der Höhle überging. Er betrachtete die ganze Wand, vom Höhleneingang bis zum hinteren Ende der Kammer.
Genau so hatte er die Zeichnungen in Erinnerung gehabt.
Ein einziges Symbol war mit weißer Farbe in zahllosen Wiederholungen sorgfältig auf den glatten Fels gemalt worden.Die Wand war bis auf den letzten Zentimeter damit bedeckt.
Es war leicht wiederzuerkennen.
Er hatte es gerade im Fernsehen gesehen, am Himmel über der Antarktis.
Yusuf hatte recht.
Und er hatte gut daran getan, zu ihnen zu kommen.
Mene mene tekel upharsin.
Schon oft hatte er angesichts dieser Zeichen an das Alte Testament denken müssen, an die Schrift an der Wand im Palast von König Belsazar. Niemand hatte das Orakel verstanden.
Gezählt, gewogen, geteilt.
Der Prophet Daniel hatte die Worte als Einziger deuten können, hatte den Untergang des Königreichs vorausgesehen. Was bedeutete das Zeichen an den Wänden der Höhle nur? Und weshalb war es am Himmel erschienen? Ohne den Blick abzuwenden, sank der Abt auf die Knie und begann still zu beten.
KAPITEL 10
Hoch über der Einsiedelei saß Pater Hieronymus auf dem Gipfel des kahlen Berges und betrachtete die eindrucksvolle Landschaft, die sich unter ihm erstreckte. Gerade stieg hinter den Bergen die Sonne auf, beleuchtete ihre gezackten Spitzen und tauchte den Himmel in zartes Gold und Rosa.
Der ausgemergelte Mann mit der Drahtbrille, den weißen Haarstoppeln und dem weiten langen Gewand kam fast jeden Morgen und Abend her. Zwar setzte ihm der steinige Aufstieg körperlich sehr zu, aber er brauchte die Flucht aus der erdrückenden Einsamkeit und Enge der Höhle. Und der Berg belohnte ihn oft weit über seine Hoffnungen hinaus. Nicht nur mit dem ehrfurchtgebietenden Anblick von Gottes herrlicher Schöpfung.
Er wusste immer noch nicht, warum er hier war, was ihn an diesen Ort geführt hatte. Er war nicht der Erste, der in dieses Tal kam, um Gott zu dienen. Seit Hunderten von Jahren kamen Männer wie er, tiefgläubige Männer, die
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