Menetekel
Holzportal durchschritt, das die beiden Bereiche voneinander trennte, schweifte sein Blick nach oben zu dem Wandgemälde, das die Halbkuppel zierte, eine tausend Jahre alte Darstellung von Mariä Verkündigung, die er unzählige Male betrachtet hatte. Darauf waren vier Propheten und der Erzengel Gabriel um die Heilige Jungfrau versammelt. Unwillkürlich fiel sein Blick auf den ersten Propheten zu Marias Rechter, Ezechiel, und der Anblick jagte ihm einen Schauer den Rückenhinab. Und während er die ganze nächste Stunde lang verzweifelt um Erleuchtung betete, konnte sein erschöpfter Verstand den Gedanken an die Vision des Propheten nicht abschütteln: wie sich die Himmel auftaten und Feuerräder darin wirbelten. Wie sie bernsteinfarben loderten und über den Häuptern kreisten,
furchtbar anzusehen, wie ein strahlender Kristall
. Und wie das alles von der Stimme Gottes gekündet hatte.
Seite an Seite beteten sie vor dem schwarzen Altar aus Stein, warfen sich wieder und wieder auf den kalten Boden, wie es der frühchristlichen Gebetstradition entsprach und später vom Islam übernommen worden war.
«Hätten wir nicht länger auf ihn warten sollen?», fragte Amin. Die Sonne stand inzwischen wärmend am Osthimmel, und sie befanden sich in dem kleinen, jüngst restaurierten Museum des Klosters – allein. «Vielleicht ist ihm ja etwas zugestoßen.»
Auch dem Abt war diese Befürchtung wiederholt durch den Kopf gegangen. Dennoch zuckte er stoisch die Schultern. «Er ist schon viele Monate auf dem Berg und wird wissen, wie man dort zurechtkommt.»
Nach einem Moment der Stille räusperte sich der junge Mönch. «Vater, was werden wir jetzt tun?»
«Ich weiß nicht recht. Ich begreife nicht, was hier vor sich geht.»
Amin riss ungläubig die Augen auf: «Ein Wunder. Es ist doch ein Wunder.»
Der Abt runzelte die Stirn. «Hier geschieht etwas, das sich unserem Verständnis entzieht, ja. Aber gleich von einem Wunder auszugehen …»
«Was gibt es denn sonst für eine Erklärung?»
Der Abt schüttelte wortlos den Kopf.
«Ihr habt es doch selbst gesagt», beharrte der junge Mönch. «Als Ihr das Zeichen im Fernsehen gesehen habt.»
Dem Abt schossen Bilder durch den Kopf. Vom Tag, an dem sie ihren Gast in der Wüste gefunden hatten. Von seinem schrecklichen Zustand. Von seiner Genesung. Von seinem ersten Tag in der Höhle.
Wieder drängte sich ihm das Wort
wundersam
auf.
«Es passt zu keiner der Prophezeiungen im Buch der Bücher», sagte er schließlich.
«Muss es das denn?»
«Aber, aber, Bruder. Du willst doch wohl nicht ihren Wahrheitsgehalt anzweifeln?»
«Wir erleben gerade ein Wunder, Vater! Wir lesen nicht erst Jahrhunderte später darüber – in der Gewissheit, dass die Darstellung unzählige Male übersetzt und ausgeschmückt und verfälscht worden ist. Wir erleben es. Hier. In der heutigen Zeit.» Der Mönch machte eine Pause. «Und uns steht die geballte Macht der modernen Kommunikation zur Verfügung.»
«Du möchtest, dass die Menschen davon erfahren?»
«Sie wissen doch schon von dem Zeichen. Ihr habt die Frau in den Nachrichten gesehen. Der Bericht wird Millionen Menschen erreicht haben.»
«Dennoch … Solange wir nicht genau wissen, was hiervor sich geht, dürfen wir nicht zulassen, dass es an die Öffentlichkeit gerät.»
Amin breitete die Arme aus. «Liegt das denn nicht auf der Hand, Vater?»
Ob der Inbrunst in seinem Blick nickte der Abt nachdenklich. Amins Überschwang war nachvollziehbar, aber der Sache nicht förderlich. Gewiss, man durfte nicht die Augen verschließen. Man musste sich stellen. Aber sie mussten Sorgfalt und Achtsamkeit walten lassen.
«Wir sollten die Schriften noch einmal studieren», entschied er. «Und unseren Papst um Rat fragen. Vor allem aber müssen wir zur Höhle zurückkehren und mit Pater Hieronymus reden. Ihm erzählen, was passiert ist. Vielleicht weiß er ja etwas damit anzufangen.»
Amin trat näher. «Was Ihr sagt, klingt sehr vernünftig. Aber es ändert nichts daran, dass wir es nicht für uns behalten dürfen. Die Gnade Gottes wurde uns zuteil. Wir sind es Ihm schuldig, sie mit der Welt zu teilen. Die Menschen müssen davon erfahren, Vater. Die Welt muss davon erfahren.»
«Dafür ist es zu früh», beharrte der Abt. «Diese Entscheidung steht uns nicht zu.»
«Vergebt mir, Vater, aber ich glaube, Ihr macht einen Fehler. Es wird andere geben, die das Zeichen für sich beanspruchen werden, viele andere. Sie werden die Botschaft
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