Menetekel
was du heute erfahren hast, muss unbedingt unter uns bleiben. Niemand darf davon erfahren. Haben wir uns verstanden?»
Yusuf nickte und küsste dem Abt die Hand.
«Bi amrak, abouna.»
Wie Ihr wünscht, Vater.
Der Abt sah ihn einen Augenblick lang eindringlich an, um seine Ermahnung zu unterstreichen, dann entließ erihn mit einem Nicken. Yusuf stieg wieder in den Previa und fuhr davon.
«Was machen wir jetzt?», fragte Bruder Amin.
Der Blick des Abtes folgte dem immer kleiner werdenden SUV. «Als Erstes will ich beten. Das alles ist … beunruhigend. Möchtest du dich mir anschließen?»
«Gern.»
Sie betraten das Kloster durch das kleine Tor in der breiten, zwölf Meter hohen Mauer. Gleich innerhalb der Befestigung erhob sich rechts von ihnen stolz die
quasr
im Morgenlicht, die Festung, ein vierstöckiger weißer Würfel, über den in unregelmäßigen Abständen kleine rechteckige Fensteröffnungen verteilt waren. Die hölzerne Zugbrücke war heutzutage ständig heruntergelassen. Das war nicht immer so gewesen. Das aus dem sechsten Jahrhundert stammende Kloster war während seiner wechselvollen Geschichte mehrmals wiederaufgebaut worden.
Das Wadi an-Natrun oder Natrontal verdankte seinen Namen dem reichhaltig vorhandenen Natriumkarbonat in seinem Boden, das eine wichtige Rolle bei der Mumifizierung spielte, und stellte die Geburtsstätte des christlichen Mönchstums dar. Die Tradition ging auf das dritte und vierte Jahrhundert zurück, als Tausende Anhänger Christi vor der Verfolgung durch die Römer dorthin geflohen waren. Jahrhunderte später waren sie in noch größerer Zahl gekommen – diesmal, um der Verfolgung durch die Moslems zu entgehen. Das Tal hatte für gläubige Christen eine besondere Bedeutung: Hier hatten sich Maria, Josef und ihr kleiner Sohn auf der Flucht vor den Männern KönigHerodes’ ausgeruht, bevor sie nach Kairo weitergewandert waren.
Zunächst hatten die kleinen Gemeinden der frühen Christen in den Höhlen gelebt, mit denen die flachen Bergketten am Rand der Wüste gesprenkelt waren, und sich vom kargen Ertrag der verstreuten Oasen ernährt. Bald begannen sie mit dem Bau von Klöstern. Sie hofften, ihrem Gott dort in Frieden und Sicherheit dienen zu können, aber die Bedrohungen ließen nie nach, für Jahrhunderte nicht. Wüstenstämme übernahmen das Vernichtungswerk der Römer und erwiesen sich als noch gnadenloser. Der brutalste dieser Angriffe, 817 durch Berber ausgeführt, dezimierte die Bewohner des Klosters. Wenn es nicht von Menschenhand bedroht war, tat die Natur ein Übriges: So überlebte im vierzehnten Jahrhundert nur ein einziger Mönch einen Ausbruch der Pest. Doch die Beharrlichkeit und Hingabe der heiligen Männer riefen das Kloster ein ums andre Mal wieder ins Leben, und heute beherbergte es mehr als zweihundert Mönche, die in die Fußstapfen der Wüstenväter des Alten Testaments traten und hierherkamen, um den Ablenkungen des Alltagslebens und den irdischen Begierden zu entfliehen, um gegen ihre inneren Dämonen anzukämpfen und für das Heil der Menschheit zu beten.
Das Tal stellte seit den allerersten Tagen der Bewegung eine Oase der Christenheit dar. Hier war die Mönchstradition entstanden, lange bevor die Christen Europas sie übernommen hatten. Über Jahrhunderte hinweg hatte seine trostlose Wüste zutiefst religiöse Männer angezogen. Und im Morgengrauen dieses ahnungsvollen Tages hielt der Abtes für durchaus möglich, dass das Tal gerade an neuer Bedeutung für die Gläubigen gewonnen hatte.
Allein … ihn schreckte der Gedanke.
Denn die Welt war inzwischen eine ganz andere.
Technisch zweifelsohne viel weiter entwickelt. Zivilisierter vielleicht auch – in mancher Hinsicht, manchen Gegenden. Aber im Kern war sie so gewalttätig und räuberisch geblieben wie immer, hatte sie sich vielleicht sogar zum Schlimmeren entwickelt.
Der Abt ging mit dem Mönch an der Feste vorbei durch den Hof, der auf der einen Seite zur Kapelle der neunundvierzig Märtyrer führte, einer Kuppel mit einem einzelnen Raum, die dem Gedenken an die Mönche gewidmet war, die 444 während eines Berberangriffs ihr Leben gelassen hatten, und auf der anderen Seite zur Kirche der Heiligen Jungfrau, der wichtigsten Andachtsstätte des Klosters. Glücklicherweise waren noch keine anderen Mönche dort, aber der Abt wusste, dass sie nicht mehr allzu lang allein bleiben würden.
Er führte den Mönch durch das Hauptschiff in den
khurus
, den Chorraum. Als er das prachtvolle
Weitere Kostenlose Bücher