Menetekel
Einer von ihnen nennt uns ‹die Sendboten der Wiederkunft›.»
«Na, wunderbar. Ich fühle mich schon viel besser», stöhnte Gracie. Etwas schien ihren Brustkorb zuzuschnüren. Widersprüchliche Gefühle tobten in ihr. Einerseits fand sie es wahnsinnig aufregend, dass ihr Gesicht mit
der
Story des Planeten verknüpft war; das konnte sie nicht leugnen. Aber es machte ihr Angst, und ihre Vernunft mahnte zur Zurückhaltung. Sie wusste, was sie gesehen hatte; sie wusste nur nicht, was es war. Und solange das so blieb, fand sie es nicht sehr berauschend, dass das Ganze zunehmend außer Kontrolle geriet. Vielleicht platzte die Story am Ende wie eine große Seifenblase, und dann würde sie sich dermaßen lächerlichgemacht haben, dass sie nur noch vorzeitig in den Ruhestand gehen konnte.
Finch hämmerte kurz auf die Tastatur seines Laptops ein. «Und wo wir gerade bei Aliens sind», sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Dalton. «Einer meiner Bekannten bei Discovery Channel hat mir das hier gemailt.» Er drehte den Bildschirm zu ihnen herum. «Er schreibt, dass es monatlich über zweihundert Berichte von Ufosichtungen gibt.
Jeden Monat.
Manche der Sichtungen sind auf Wolken oder auf Kondensstreifen der Concorde zurückzuführen, das Übliche eben. Aber daneben sind jede Menge Sichtungen dokumentiert, für die es keine Erklärung gibt, sie reichen Tausende von Jahren zurück. Wir reden hier über Hunderte von leuchtenden Feuerbällen, fliegenden ‹irdenen Gefäßen›, leuchtenden Scheiben. Ufos sind kein Phänomen der Gegenwart. Ich meine, schaut euch die historischen Dokumente mal an: ‹Japan, 1458. Ein Objekt, hell wie der Vollmond und von merkwürdigen Zeichen begleitet, erscheint am Himmel.› Oder das hier: ‹London, 1593. Ein fliegender Drache, von Flammen umgeben, schwebt über der Stadt.›»
«So ist das eben, wenn man Opium raucht», meinte Dalton. «Ernsthaft. Solche Drogen waren damals ganz legal.»
«Außerdem ist keine dieser Erscheinungen auch nur ansatzweise verifizierbar», fügte Gracie hinzu.
«Das stimmt. Entscheidend ist aber, dass es so viele sind. An verschiedenen Orten auf der ganzen Welt niedergeschrieben zu einer Zeit, als es praktisch unmöglich war, von einem Kontinent zum anderen zu reisen. Als die meisten MenschenAnalphabeten waren. Sogar in der Bibel ist von ihnen die Rede.»
«Das erstaunt mich jetzt aber», höhnte Gracie. Anspannung hing in der Luft. «Also, wo stehen wir jetzt? Was haben wir deiner Ansicht nach gesehen?»
Finch nahm seine Brille ab und putzte sie kurz mit dem Ärmel. «Ohne das Bildmaterial hätte ich auf Massenhalluzination getippt.» Er setzte die Brille wieder auf und sah Gracie an. «Ich kann es mir nicht erklären.»
«Dalton?», fragte sie.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und kämmte sich mit den Fingern die Haare. «Keine Ahnung. Es hatte etwas … Ätherisches an sich, findet ihr nicht? Es sah nicht flach aus, wie irgendeine Projektion, aber es sah auch nicht gerade wie ein fester Körper aus. Schwer zu erklären. Es hatte irgendwie etwas Organisches, es wirkte nicht wie ein Fremdkörper. Sondern als ob es ein Teil des Himmels wäre, als ob der Himmel selbst zu leuchten angefangen hätte, versteht ihr?»
«Ja, absolut.» Gracie musste wieder daran denken, welche Euphorie das Zeichen in ihr ausgelöst hatte.
Als wäre die Luft von Gott geheißen worden, aufzuleuchten und diese Gestalt anzunehmen,
schoss es ihr durch den Kopf, was ihr ganz und gar nicht behagte. Sie hatte schon als junges Mädchen aufgehört, an Gott zu glauben – als ihre Mutter an Brustkrebs gestorben war. Und nun tauchte dieses Ding am Himmel auf, als wollte es sich über sie lustig machen.
Sie schob den Gedanken beiseite.
Nun mach mal halblang. Wir sind alle ein bisschen durcheinander. Es muss eine logische Erklärung dafür geben.
Doch in ihrem Kopf kreiste unablässig eine Frage:
Und wenn nicht?
Gracie starrte aus dem Fenster in den Himmel hinauf. Das Satellitentelefon klingelte, und während Finch ranging, musste sie wieder an den Ufoschwindel vor einem Jahr denken. Auf dem Video war ein Strand in Haiti zu sehen, der von einem Ufo in helle Aufregung versetzt wurde. Binnen weniger Tage hatte das Video über fünf Millionen Aufrufe auf Youtube bekommen und webweit die Chatrooms und Nachrichtenseiten beherrscht. Millionen Menschen waren darauf hereingefallen – bis sich herausstellte, dass irgendein französischer Spezialist für Computertrickfilme das Ganze mal
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