Menetekel
auf Pater Hieronymus und ermahnten ihre Anhänger, sich nicht von solchen Täuschungen blenden zu lassen.
Sie sah den jungen Mönch an. Sein Gesicht war angespannt.
«Was ist?», fragte sie.
«Es ist mir zu hoch, was Sie alle dort gesehen haben. Auch Vater Hieronymus’ Visionen sind mir zu hoch oder wie beides miteinander zusammenhängt. Aber ein paar Dinge begreife ich doch. Ägypten ist kein reiches Land. Die Hälfte der Einwohner hat praktisch keine Schulbildung und lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Nicht einmal Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern bekommen mehr als das. Aber es ist auch ein sehr gläubiges Land.» Sein Blick schweifte zu dem Lichtermeer unter ihnen ab. «Die Leute suchen Trost im Glauben, weil sie um sich herum nichts sehen, was Anlass zur Hoffnung gibt. Sie haben kein Vertrauen in ihre Politiker. Sie sind den Verkehr und die Umweltverschmutzung satt, die Preissteigerungen, die fallenden Löhne und die Korruption. Sie haben nur einen, dem sie vertrauen – Gott. So ist es überall in diesem Winkel der Erde. Die religiöse Identitätspielt für die Leute in diesem Land eine größere Rolle als ihre nationale Zugehörigkeit. Wir befinden uns hier auf Messers Schneide, was Glaubensdifferenzen betrifft. Es ist ein Tabuthema, aber die Lage ist sehr ernst. Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen. Unsere Brüder vom Kloster Abu Fana wurden im letzten Jahr zweimal überfallen. Beim zweiten Mal wurden sie verprügelt und ausgepeitscht und gezwungen, auf das Kreuz zu spucken.» Er wandte sich um und ließ seinen Blick zwischen ihnen hin und her wandern. Schließlich konzentrierte er sich auf Gracie. «Es gibt jede Menge Spannungen und Missverständnisse zwischen den Volksgruppen dieses Landes. Nur eine Autostunde von hier leben Millionen Menschen.»
Gracie verstand. Das war keine gute Mischung.
«Pater Hieronymus hierherzubringen, war gut», fügte er hinzu. «Aber es reicht vielleicht noch nicht.»
Das war ihr auch schon durch den Kopf gegangen. Ein alarmierendes Bild entstand vor ihrem inneren Auge: das zweier feindlich gesinnter Gruppen draußen vor dem Tor; auf der einen Seite koptische Christen auf einer Art Pilgerfahrt, die hören wollten, was Pater Hieronymus zu sagen hatte, auf der anderen Seite Muslime, die bereit waren, gegen jede Schandtat der
kuffar
– der Gottesleugner – vorzugehen.
Wirklich keine gute Mischung.
«Wo bleibt die Armee?», fragte sie. «Weiß dort niemand, was hier vor sich geht? Sollte das Kloster nicht durch Truppen beschützt werden? Und die Höhle – sie wird doch verwüstet werden, wenn die Lage außer Kontrolle gerät.»
«Die Armee?», fragte der Mönch finster. «Sie meinen die Streitkräfte der Inneren Sicherheit. Die verfügt über doppelt so viele Leute wie die Armee, woran Sie sehen können, von wem sich diese Regierung am meisten bedroht fühlt. Aber die Innere Sicherheit kommt normalerweise erst, wenn es schon brennt. Und dann wird es meist nur noch schlimmer. Ihre Truppen verstehen sich darauf, die Ruhe unter Einsatz von Gewalt wiederherzustellen. Unter massivem Einsatz von Gewalt.»
Das klang gar nicht gut. Gracie wandte sich an Finch: «Kannst du Kontakt zur Botschaft aufnehmen? Vielleicht können die ja was auf die Beine stellen.»
«Ich kann’s versuchen, aber ich glaube, Bruder Amin hat recht. Wir verschwinden besser von hier, bevor die Lage außer Kontrolle gerät. Und das gilt auch für Pater Hieronymus.»
Dalton nickte zu der Menge unten hinüber. «Wird nicht gerade einfach werden.»
«Wir haben ein Auto und einen Fahrer», sagte Gracie. «Und noch ist es ruhig draußen. Wir sollten im Morgengrauen aufbrechen. Solange es noch geht.» Sie sah wieder zu Finch. «Wir können Pater Hieronymus zur Botschaft bringen. Und uns telefonisch dort ankündigen. Alles andere werden wir sehen, sobald wir dort sind.»
«Und wenn er nicht mitkommen will?», fragte Finch.
Gracie sah zu Bruder Amin. Er zog unsicher die Schultern hoch. «Ich werde mit ihm reden, aber ich habe keine Ahnung, was er sagen wird.»
«Ich komme mit. Wir müssen ihn unbedingt überzeugen.»Gracie stand auf. Bruder Amin nickte und ging zu der offenen Dachluke. Gracie wandte sich an Finch. «Gleich im Morgengrauen, okay?» Sie sah ihn nachdrücklich an, dann stieg sie hinunter ins Innere des Festungsturms.
KAPITEL 38
RIVER OAKS, HOUSTON, TEXAS
Das Handy von Reverend Nelson Darby klingelte genau in dem Augenblick, als er die breiten Stufen der herrschaftlichen, mit
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