Mensch, Martha!: Kriminalroman
geworfen.«
»In welchen Briefkasten?«
Zeller ohrfeigt das Mädchen im Rhythmus der Silbentrennung.
»In ihrer Wohnung.«
»Wo ist das?«
Corinna fischt die Visitenkarte
aus der Hosentasche. »Hier!« Ihre Hand zittert. Endlich lässt
Zeller von ihr ab. Rotz und Wasser laufen über ihr Gesicht.
»Wann war das genau?«
»Um halb neun.«
Er blickt auf seine Armbanduhr.
»Ich warne dich! Wenn du mich verarscht, schneide ich der Katze die
Ohren mit der Nagelschere weg!«
»Ich verarsche dich nicht«,
sagt Corinna resigniert und wischt sich mit dem Ärmel über das
Gesicht. Er schlägt ihr noch einmal auf den Hinterkopf. Dann gibt er
den Sicherheitsgurt frei. Er rüttelt den Korb mit aller Kraft. Die
Katze miaut jämmerlich. Er schließt den Haken am Korb und wirft ihn
auf den Rücksitz. Dann öffnet er die Beifahrertür. »Los, und
jetzt raus hier. Er schubst sie aus dem Auto. Sie fällt auf die
Knie. »Und jetzt mach, dass du in dein Heim kommst. Und kein Wort zu
irgend jemanden! Sonst blase ich dem Vieh das Licht aus. Mit den
Ohren fange ich an. Und wenn sich die Polizistin meldet, weißt du,
was du zu tun hast!«
Corinna nickt. Irgendwie hat
sie keine große Hoffnung das Kätzchen jemals wiederzusehen.
Das Mittagessen im Tagungshaus
schmeckt wunderbar. Martha sitzt mit fünf Kollegen am Tisch. Und da
zwei von ihnen Bier zum Essen trinken, traut sie sich auch.
Man spricht von der Arbeit.
Einer, den Martha besonders sympathisch findet, spendiert allen
am Tisch nach dem Essen Kaffee. Weil er heute noch genau 400 Tage bis
zu seiner Pensionierung hat. »Deshalb mache ich dieses Seminar
mit. Nützen wird es nicht viel. Aber es ist ein Tag, an dem ich mich
nicht aufregen muss!« Ich mich schon!
Der Nachmittag beginnt mit
einer Gruppenarbeit. Man findet sich in Vierergruppen zusammen und
tauscht sich darüber aus, welchen schwierigen Situationen man
in letzter Zeit ausgesetzt war, welche Strategien man angewandt und
was man rückblickend gut oder schlecht an dieser Reaktion empfunden
hat.
Zum Glück ist in Marthas
Gruppe einer, der sofort loslegt, sein Inneres zum Äußeren zu
machen. Er berichtet in einem schier nicht enden wollendem
Wortschwall von der Verhaftung eines renitenten Zuhälters, der einer
Kollegin das Schlüsselbein brach und ihm abschließend ins
Gesicht spuckte. Ich glaube, es heißt Logorrhoe.
Martha ist froh, nicht über
sich reden zu müssen. Meine Schwester wurde vergewaltigt.
Meine Mutter setzt mir zu, weil ich bisher keinen Ehemann gefunden
habe. Meine Tochter wird von mir wie ein Paket abgegeben und wieder
abgeholt. Mein Kollege hat Zahnschmerzen im Endstadium. Sollte
er dennoch überleben, wird er hinterher tablettensüchtig sein. Zu
einem Verdächtigen habe ich Arschloch gesagt. Mit meiner Arbeit
komme ich nicht weiter, weil ich Seminare besuche, wo ich den
Problemen anderer zuhöre. Meine Strategien gegen Stress sind
Zigaretten und Wein. Wahlweise auch Schnaps, Bier, Sekt. In diesem Punkt reagiere ich sehr flexibel.
Wieder einmal ist die Haustür nicht
abgeschlossen. Herr Salger bemängelt das ständig, aber manche
Hausbewohner halten sich einfach nicht an die Hausordnung.
Frank Zeller geht ins Haus,
muss aber feststellen, dass es keine Wand mit Briefkästen gibt. Die
Post wird durch die Türen direkt in die Flure der Wohnungen
geworfen. Er findet die Wohnung im dritten Stock und blickt
durch den Briefschlitz. Auf dem Dielenboden liegt Post. Er sieht
keine Chance, etwas heraus zu angeln. Er prüft die Türe, das
Türschloss.
Aus der Nachbarwohnung kommt
eine ältere Frau. »Guten Tag«, grüßt sie. »Möchten Sie zu Frau
Morgenstern? Die wird in der Arbeit sein. Sie kommt erst gegen
halb sechs.«
»Und Herr Morgenstern?«
»Es gibt keinen Herrn
Morgenstern«, sagt die Frau mit leicht abschätzigem Ton.
Zeller hat erkannt, dass in
diesem Haus keine Tür aufgebrochen werden kann. Dass hier Rentner
hinter ihren Wohnungstüren auf der Lauer liegen in der Hoffnung, dem
Tagesablauf eine kleine Abwechslung zu geben. Wenn die
Polizeischlampe nach Hause kommt, wird eine schnelle Aktion gefragt
sein. Er geht nach unten, steigt in sein Auto und telefoniert mit dem
Handy.
Die letzte halbe Stunde vor der Kaffeepause muss
Martha eine Reise durch ihren Körper mit dem Ziel antreten, das
Zentrum der Ruhe in sich zu entdecken. Der Kursleiter mit dem
unmöglichen Outfit fordert die Teilnehmer auf, in Gedanken alle
Teile des Körpers zu durchwandern und dabei auf ihre
Empfindungen zu achten.
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