Mensch, Martha!: Kriminalroman
Steuerzahler, schau dir das an!
Auf den Straßen tobt das Verbrechen und wir sitzen hier und
reisen durch unsere Körper!
Im Becken spürt Martha, dass
sie dringend zur Toilette muss. Beim Kopf angelangt, denkt sie an
Thomas. Was macht dein Zahn? Vielleicht geschieht hier ein Wunder
und der Labersack hört überpünktlich auf. Dann komme ich noch
auf einen Sprung bei dir vorbei.
Am Ende der Reise ist Martha
ganz kribbelig. Das Zentrum der Ruhe hat sie offensichtlich nicht
gefunden.
Frank Zellers Bruder Claus kommt eine halbe Stunde
später. Er erwischt einen Parkplatz direkt vor dem Hauseingang.
Martha hatte dieses Glück noch nie.
Sie setzen sich in die
türkische Kebab-Kneipe schräg gegenüber von Marthas Haustüre.
Die Kaffeepause ist gerade lange genug, die
Toilette aufzusuchen, Kaffee zu trinken und eine schnelle
Zigarette zu rauchen. Man liegt nicht mehr im Zeitplan.
»Sind wir pünktlich fertig?«
erkundigt sich Martha beim Kursleiter, bevor es weitergeht.
»Selbstverständlich. Es
folgen noch eine Aussprache der Kursteilnehmer und eine
Zusammenfassung meinerseits. Um vier Uhr sind wir fertig.«
Martha begreift sehr schnell,
dass man eben nicht pünktlich fertig sein wird. Der Kollege mit
der Logorrhoe meldet sich bei der Aussprache zu Wort. Wortreich
erklärt er, welche Wohltat es für ihn gewesen sei, den eigenen
Körper zu bereisen. Thomas, heute wird es nix mehr. Aber wie du
schon sagtest: Du bist kein Kind mehr. Trotzdem. Insbesondere der Aufenthalt im Brustraum hätte ihm bewusst
gemacht, dass eine tiefe Atmung stresshemmend wirke. Ich fange an,
eine gewisse Sympathie für den Zuhälter zu empfinden!
Als der Modesünder dann mit
seiner Zusammenfassung anfängt, wird Martha nervös. Sie blickt auf
die Uhr. Es ist kurz nach vier. Sie sucht möglichst ungeniert in
ihrem Rucksack nach dem Fahrplan der S-Bahn. Die nächste Bahn ist
nicht mehr zu schaffen.
Zu guter Letzt gibt es noch
eine Hausaufgabe für die Kursteilnehmer. »Beschreiben sie bis
nächste Woche eine stressige Situation. Achten sie auf
psychische und physische Wahrnehmungen. Wie lösen Sie die
Situation auf? Es bedeutet Stress für mich, solchen Menschen
wie euch ausgesetzt zu sein. Mein Blutdruck steigt, meine Handflächen
werden feucht, mein Mund trocken. Ich ziehe meine Dienstwaffe,
schieße euch in den Hinterkopf. Dann rauche ich eine Zigarette und
nehme ein Vollbad mit Rosenöl.
Martha springt auf, nachdem man
kurz nach halb fünf den Schlusspunkt gesetzt hat. Der
Kursleiter kommt mit einem therapeutischen Lächeln auf
Martha zu und legt seinen Wurstfinger auf ihren Unterarm. »Und was
lernen Sie aus dieser Situation, Frau Morgenstern? Legen Sie
Ihre Termine nicht so eng!« Werde zu Stephan Stadlers Eltern
sagen: Meine Termine liegen zu eng, wenn der Kindergeburtstag um
fünf endet. Nächstes Jahr gefälligst bis sechs!
»Leck mich!« sagt Martha,
schnappt ihren Rucksack und rennt zur Bushaltestelle. Sie sieht noch
die Rücklichter des Busses. Sie versucht vergeblich, Barbara zu
erreichen.
Der Kindergeburtstag ist zu Ende. Alle Gäste bis
auf Rebekka sind abgeholt.
»Kommt deine Mama nicht?«
fragt Stephan.
»Doch, eigentlich schon. Und
diesmal sogar pünktlich! Sie ist heute auf Fortbildung.«
»Dann wird sie jeden Moment
kommen«, sagt Stephans Mutter und räumt leergegessene Teller und
klebrige Limonadengläser in die Spülmaschine.
»Ich geh ihr entgegen!«
beschließt Rebekka.
»Warte doch lieber hier auf
sie!«
»Ach wo! Ich geh los!«
Rebekka kommt nach Hause und steht vor der
verschlossenen Wohnungstür. Sie lugt durch den
Briefkastenschlitz. Die Post liegt auf dem Boden. Sicheres Zeichen.
Mama ist noch nicht da. Sie seufzt, stellt ihre Schultasche ab und
läuft die Treppe hinunter. Sie klingelt bei Frau Kaufmann im
Parterre. Sie weiß, dass die einen Zweitschlüssel hat. Frau
Kaufmann ist die einzige Hausbewohnerin, mit der Martha überhaupt
Kontakt hat. Von Herrn Salger mal abgesehen.
»Hallo, Frau Kaufmann! Gibst
du mir den Wohnungsschlüssel? Mama wollte heute ganz pünktlich
sein, aber sie hat es wieder mal nicht geschafft.«
»Grüß Gott, Rebekka! Dann
warte doch lieber bei mir bis die Mama da ist.«
»Ach was. Die kommt bestimmt
in zehn Sekunden!«
Frau Kaufmann gibt ihr den
Schlüssel mit dem Bärenanhänger, den Andreas vor zehn Jahren auf
dem Oktoberfest für Martha geschossen hatte. »Aber wenn du
dich alleine fühlst, kommst du!« ruft Frau Kaufmann ihr nach.
Rebekka öffnet die
Wohnungstür.
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