Mensch, Martha!: Kriminalroman
Handlung.
Marthas Gedanken schweifen weit davon. Warum ist das echte
Leben so wenig märchenhaft? Warum ein Happy End so ungewiss, so
unwahrscheinlich?
–15–
Der Montag beginnt hektisch. Beim
Frühstück liest Martha zum ersten Mal das Einladungsschreiben
für das Seminar genau durch. Es findet in einem evangelischen
Tagungshaus in Ebersberg statt: »Wegen Kanalisationsarbeiten
herrscht Parkplatznot. Wir bitten die Gäste, die öffentlichen
Verkehrsmittel zu benutzen. Von der S-Bahn-Haltestelle gibt es
eine direkte Busverbindung zum Tagungshaus.«
Martha treibt Rebekka an, die
im Zeitlupentempo Kakaopulver in ihre Milch rührt. Sie steckt das
verpackte Geburtstagsgeschenk für Stephan in Rebekkas Schultasche.
»Du weißt Bescheid. Nach der Schule gehst du wie üblich zu
Oma und Opa. Beeil dich mit den Hausaufgaben. Barbara bringt dich
dann zu Stephan. Nimm deine Schultasche gleich mit. Denn ich hole
dich um fünf dort ab. Sollte ich mich doch verspäten – was ich
nicht glaube – gehst du wieder zu Oma und Opa. Aber ich bin
bestimmt pünktlich.«
»Mama, du redest wie ein
Schnellfeuergewehr!«
»Hast du verstanden, wie es
heute Nachmittag abläuft?«
»Jaaa!«
Sie gehen noch ein Stück
zusammen. An der Ecke verabschieden sie sich mit einem flüchtigen
Küsschen. »Und benimm dich ordentlich auf der
Geburtstagsfeier!« mahnt Martha abschließend.
Sie rennt zur S-Bahn. Sie
bekommt keinen Sitzplatz bis Trudering. Ich hetze im
Berufsverkehr quer durch die Stadt, um mir Tipps gegen
Stresserscheinungen geben zu lassen.
Vor etwa sechs Wochen hatte Corinna Färber aus
dem Papierkorb Fotoausdrucke geholt, die anscheinend nicht gut
gelungen waren. Sie hatte sie heimlich an sich genommen. Sie
wollte von den Fotos ihren Kopf ausschneiden, um Bilder von sich
für die Freundschaftsbücher ihrer Klassenkameradinnen zu
haben. An diesem Morgen steckt sie alle Bilder, sogar die, bei denen
ihr Kopf schon fehlt, in einen braunen Briefumschlag, den sie am
Abend zuvor ihrer Erzieherin abgebettelt hatte. Sie
gibt Lena, einem Mädchen aus dem Blauen Haus den Auftrag, sie
für die ersten beiden Schulstunden zu entschuldigen. Sie
gibt vor zum Arzt zu müssen. Am Tag zuvor hatte sie den S- und
U-Bahnplan studiert, der im Vorraum der Cafeteria hängt. Dann macht
sie sich auf den Weg zu der Adresse, die die Polizistin auf der
Rückseite der Visitenkarte notiert hat.
Vor Corinnas Schule wartet zur
gleichen Zeit ein Mann im PKW. Er will Corinna abpassen. Als sie um
Viertel nach acht immer noch nicht erschienen ist, gibt er erst mal
auf und fährt weg.
Martha schafft es rechtzeitig. Sie
sitzt mit fünfzehn anderen Polizisten in einem schönen Raum
mit Parkettboden und Stuckdecken. Außer einer jungen Polizistin ist
sie die einzige Frau. Auf jedem Platz liegt ein Programm für den
Tag. Martha liest die wichtigsten Punkte:
10.00 Uhr kurze Pause
12.00 Uhr Mittagessen
14.30 Uhr Kaffeepause
16.00 Uhr Ende der
Veranstaltung
Frau Wagner ist da, aber das
Seminar wird von einem Mann geleitet, der aussieht, als hätte
ihn seine hochbetagte Mutter eingekleidet. Martha hört, dass
Stress ein Ungleichgewicht zwischen Belastungen und
Ressourcen ist. Dass die Vermeidung von unnötigem Stress ein
Lebensgrundsatz sein sollte. Sie wundert sich, wie engagiert
manche Kollegen, nicht nur die jungen, zuhören und Fragen stellen. Bin ich falsch programmiert oder sind die es?
Die kurze Pause ist für Martha
das Highlight des Vormittags. Sie raucht zwei Zigaretten vor der Tür
und nimmt sich dann ein Mineralwasser vom Getränketisch.
Sie kommt mit der jungen Polizistin ins Gespräch, die ihr erzählt,
dass sie letzte Woche einen Streifenwagen geschrottet hat.
Bis zum Mittagessen erfahren
die Seminarteilnehmer, wie Stress vermieden werden kann. Es sind vier
Punkte zu beachten: Erstens: Plane Termine richtig! Die kennen die
Noll nicht. Die sagt um halb fünf: Wir durchsuchen die Wohnung. Sie
kommen mit!
Zweitens: Setze Prioritäten! Mein wichtigstes Anliegen ist im Moment die Sache rund um die
Färber-Schwestern. Und was mach ich? Ich sitze hier und lasse mich
totquatschen!
Drittens: Delegiere Aufgaben! An wen? Der eine Kollege feiert krank. Der andere ist mehr tot als
lebendig.
Viertens: Lerne, nein zu sagen! Dann mach das mal. Sag nein zur Noll!
Corinna verlässt um Viertel nach eins das
Schulhaus. Sie ist erleichtert. Ihre Klassenlehrerin hat den
Schwindel mit dem Arztbesuch geschluckt. Sie geht alleine. Lena
lässt sich montags immer Zeit, weil
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