Menschen und Maechte
noch einmal unsere Haltung zu dieser Frage festzustellen.« Carter erklärte, die USA würden keinem Vorschlag zustimmen, der ein Einfrieren, ein Moratorium oder einen Verzicht auf die Stationierung neuer oder zusätzlicher Mittelstreckenraketen vorsehe, auch nicht für einen begrenzten Zeitraum. Der amerikanische Präsident fuhr fort, er wisse, daß ich weiterhin den Doppelbeschluß nachdrücklich unterstützte. Er selbst trete für einen sofortigen und bedingungslosen Beginn der Klärung (»to explore«) von Begrenzungen der Mittelstreckenwaffen ein; er werde die Sowjets drängen, ihre SS-20-Stationierungen anzuhalten; aber er werde kein Einfrieren bis 1983 akzeptieren, selbst wenn dies allein die Sowjetunion beträfe; die USA würden weiterhin zügig mit der Stationierung von Mittelstreckenwaffen fortfahren.
Der Brief war angesichts der Tatsache, daß die Texte meiner Reden dem Weißen Haus offiziell zugeleitet worden waren, sehr ungewöhnlich, stützte er sich doch ausschließlich auf Presseberichte. Die Quelle von Carters Ärger war mein bevorstehendes Treffen mit Breschnew. Die Lancierung des Briefes an die Washingtoner Presse war offene Ranküne. Allem Anschein nach wollte hier jemand sein Mütchen kühlen, der sich ohnehin nie entscheiden konnte, ob die Deutschen oder die Russen die Hauptfeinde des polnischen Volkes seien, dem er selbst entstammte. Für mich war der
entscheidende Punkt des Briefes der einseitige Nachdruck, den er auf die Sicherstellung der Stationierung westlicher Mittelstreckenwaffen legte; demgegenüber fehlte jede Betonung der vom Bündnis beschlossenen Begrenzungsverhandlungen mit der Sowjetunion, für die nach dem Doppelbeschluß noch dreieinhalb Jahre zur Verfügung standen. Die Sowjets hatten bisher solche Verhandlungen abgelehnt; jetzt kam es meinen Mitarbeitern und mir so vor, als sei Brzezinski damit im Grunde durchaus zufrieden und als lege Carter nur Wert darauf, in der amerikanischen Öffentlichkeit Härte gegen Moskau zu demonstrieren, ohne an einem Erfolg meiner Mission in Moskau tatsächlich interessiert zu sein.
Vier Tage später beantwortete ich Carters Brief sehr knapp und ohne mich auf die Sachthemen einzulassen; ich schlug ein Gespräch in Venedig vor, das fünf Tage später, am 21. Juni, auch stattfand. Vor dieser Begegnung erschien in den »Stuttgarter Nachrichten« ein Interview Henry Kissingers, in dem er über mich sagte: »Ich habe zu Schmidt als Menschen und als politischem Führer sehr großes Vertrauen.« Ich gebe zu, das um so lieber gelesen zu haben, als gleichzeitig die Oppositionsführer Dr. Kohl und Dr. Zimmermann sich im Bundestag uneingeschränkt auf die Seite Carters schlugen.
Für den amerikanischen Präsidenten verschlechterte sich die Atmosphäre des bevorstehenden Treffens im Kreise der Sieben dadurch, daß er inzwischen die Nahost-Erklärung der neun Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Juni – die zufällig auch in Venedig beschlossen worden war – einen »Schlag gegen Camp David« genannt hatte. Cyrus Vance dagegen, der mittlerweile wieder Privatmann war, warnte in Harvard seine Landsleute vor dem Glauben, sie allein könnten die Welt in ihre Bahnen lenken. Er fügte hinzu: »Wir Amerikaner können uns nicht erlauben, daß wir zu Gefangenen unserer Emotionen werden.«
Die Stadt Venedig zeigte ihre ganze Pracht bei strahlendem Wetter. Die internationalen Konferenzen finden dort stets auf der Insel San Giorgio Maggiore statt. Das ehemalige Benediktinerkloster, eher ein Palazzo, ist zu einem Konferenzzentrum ausgebaut worden.
Schon bei der Anfahrt mit dem Motorboot quer durch den Canale Grande hat man einen mitreißenden Blick auf die Kirche des Klosters; auf dem Rückweg hat man die Hauptinsel mit dem Dogenpalast und dem Campanile von San Marco sowie die Front der Palazzi entlang des Ufers vor sich. Man müßte eine Seele aus Holz haben, um nicht jedesmal erneut von der Schönheit dieses Weltwunders überwältigt zu sein. Auch diesmal geriet ich auf dem Wege zum Gespräch mit Jimmy Carter in eine beinah euphorische Stimmung.
Aber auch politisch fühlte ich mich gut. Ich wußte, die anderen europäischen Regierungschefs – Valéry Giscard d’Estaing an der Spitze – würden mich unterstützen. Vor allem aber hatte ich verstanden, daß Carter aus innenpolitischen Gründen inzwischen weit mehr auf mein Wohlverhalten angewiesen war als ich auf das seine; denn sein Prestige zu Hause und in der Welt war angeschlagen, das meine
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