Menschen und Maechte
außer Beijing und Nanjing nur noch eine Stadt zu sehen, nämlich Urumtchi in Xinjiang, dem chinesischen Teil Turkestans. Der stundenlange Flug über die endlosen, unbesiedelten Einöden, über die Ränder der Wüste Gobi und danach entlang der Ausläufer des Tien-Shan-Gebirges prägte in uns die Vorstellung eines fast unerschöpflich weiten Raumes mit einer Eindringlichkeit, die man nicht wieder vergißt. Irgendwo da unten war also die alte Seidenstraße verlaufen, mit Hunderten von Kilometern Leere zwischen den größeren Oasen und Stützpunkten. Bisweilen konnte ich die Eisenbahnlinie erkennen, die an die Stelle der Karawanenstraße getreten ist. Irgendwo da unten war auch der Buddhismus ostwärts gezogen und Jahrhunderte später dann Marco Polo. In dieser unendlichen Einöde hatten sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder Kämpfe zwischen Chinesen und Mongolen, Tibetern und zentralasiatischen Turkvölkern zugetragen. Irgendwo dort unten, in den Wüsten der inneren Mongolei, hatte vor siebenhundertfünfzig Jahren Dschingis Khan seinen Eroberungsfeldzug gegen China begonnen. In der inneren Mongolei und in Xinjiang besitzt China noch immer ungenutzte, gewaltige Kultivations- und Siedlungsmöglichkeiten, sofern genug Wasser gesammelt oder an die Oberfläche gebracht werden kann. Zwar hat Rußland unter den Zaren wie unter den Kommunisten die äußere Mongolei aus dem chinesischen Machtbereich herausgebrochen; aber an Xinjiang ebenso wie an Tibet und an der Mandschurei werden die Chinesen eisern festhalten.
Das Tien-Shan-Gebirge mit seinen bis zu 6000 und 7000 Metern hohen Gipfeln teilt Xinjiang in das südlich gelegene Tarimbecken und in die nördlich gelegene Dsungarei. Seine Schneefelder und Gletscher glänzten in der Sonne, als wir an ihnen entlangflogen. Die Gipfel im Norden und Nordwesten der Dsungarei konnten wir im Dunst der Ferne nur ahnen, aber wir wußten:
Abb Die deutsche Delegation beim obligaten Photo vor der Großen Brücke über den Yangtse; links hinter Loki Schmidt Dr. Völpel, Schmidts »Leibarzt«, links daneben Staatsministerin Marie Schlei.
Abb 16 Ehrenformation junger Eisenbahnerinnen in Urumtchi.
Dahinter liegt der sowjetische Teil Turkestans und dahinter dann Kasachstan und Kirgisistan.
Der Empfang in Urumtchi, der Hauptstadt der Provinz Xinjiang, unterschied sich bereits äußerlich deutlich von dem Empfang in Beijing. Die Gesichter der Menschen wirkten zwar asiatisch, nicht aber chinesisch. Alles war viel bunter: Die Frauen trugen bunte Röcke, auch beim Straßenfegen mit kleinen Reisigbesen; die Kinder waren noch viel farbenfroher angezogen als in Beijing, und die meisten Männer trugen bestickte kleine Kappen. Zur Begrüßung waren weibliche Soldaten mit weißen Handschuhen angetreten und Tanzgruppen in hübschen Volkstrachten.
Die Uiguren sprachen schnell und temperamentvoll, unsere chinesischen Begleiter konnten sie kaum verstehen. Alle Spruchbänder waren zweisprachig: unten chinesische Schriftzeichen, oben, also sozusagen mit Vorrang, türkische Schrift, zumeist in lateinischen Buchstaben. Die Han-Chinesen waren offensichtlich eine Minderheit, die Uiguren überwogen bei weitem. Sie waren interessiert und neugierig, wahrscheinlich hatte es dort kaum je einen offiziellen westlichen Besuch gegeben. Voller Stolz erzählten sie, daß sie sich ohne große Schwierigkeiten mit den Türken in der weitentfernten Türkei verständigen könnten.
Im Museum gewannen wir den Eindruck einer über Jahrhunderte hinweg entstandenen Mischkultur: einerseits geprägt von der Nomadenkultur der Steppe und der Oasenkultur der Wüste, andererseits beeinflußt von den Reitervölkern der Hunnen und Mongolen, die aus der Mongolei kommend von hier aus nach Westen durchgebrochen waren.
Die Grenzen zur Sowjetunion seien nicht genau definiert, sagte mir der ständig lächelnde Führer, aber sie seien praktisch unpassierbar. Sie können nicht immer so unpassierbar gewesen sein, dachte ich, denn die Türken, Hunnen und Mongolen waren zum großen Teil ja weitergezogen – nach Indien, Persien, Kleinasien
und nach Europa. Und Seide wie Porzellan waren über die heute sowjetischen Städte Taschkent und Samarkand bis nach Venedig gelangt. In umgekehrter Richtung hatte der Islam, aus dem mittleren Osten kommend, die Gebirgspässe überwunden.
Xinjiang ist heute sozusagen ein zentralasiatischer Außenposten Chinas, ähnlich wie Kasachstan und die übrigen islamischen Sowjetrepubliken, deren Gebiete die
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