Menschen und Maechte
wegen der Größe des riesigen und volkreichen Staates war sie zahlenmäßig doch wohl sehr viel stärker. Und Konfuzius, Laotse und der Buddhismus leuchteten über China schon seit Jahrtausenden.
Natürlich war das kaiserliche China des 19. Jahrhunderts verrottet, heruntergewirtschaftet von den kolonialen Interventionsmächten; aber es schien mir gänzlich unwahrscheinlich, daß dieses Reich seine Geschichte, seine Traditionen über Bord werfen und für Maos großangelegten Versuch der Schaffung eines »neuen Menschen« eintauschen würde. War das nicht sonderbar unhistorisch? Mit ehrfürchtigem Respekt habe ich in China von jeher die einzige Weltkultur gesehen, die sich über Jahrtausende hinweg bis in die Gegenwart kontinuierlich entfaltet und bewahrt hat. Und dies sollte durch eine»Kulturrevolution« dem Wesen nach verändert werden?
Nicht nur die Oper in Beijing, auch die Propaganda-Oper in Urumtchi in der Provinz Xinjiang, früher Sinkiang geschrieben, schockierte mich. Mir mißfiel der Stil des Umgangs zwischen den Zehntausenden von Menschen in der Volkskommune »Roter Stern«. Mir mißfielen die Propagandalautsprecher, die den ganzen Tag auf Urumtchis Hauptstraßen die Menschen mit politischer Agitation berieselten. Mir mißfiel die aufgezwungene Uniformität der Kleidung, und mich schockierte die offensichtlich rücksichtslose Unterdrückung aller Individualität.
Was meine Mitreisenden Klaus Mehnert, C. F. von Weizsäcker und Max Frisch aus Privatgesprächen mit Intellektuellen im Umkreis der Universitäten berichteten, vermittelte mir einen gleichermaßen trostlosen Eindruck. Zu Millionen hatte man im Namen der Kulturrevolution Schüler, Studenten und Künstler zur Zwangsarbeit in die dörflichen Kommunen verschickt, hatte die Intellektuellen
gedemütigt, entwürdigt und zu Selbstbezichtigungen gezwungen – Zehntausende waren zusammengeschlagen worden, Tausende waren umgekommen. Jedermann mußte immerfort Gesinnungen vortäuschen, die nicht die seinen waren; ein ganzes Volk war zum Lügen verdammt worden. Wer in die Stadt und an die Universität hatte zurückkehren dürfen, dessen beruflicher Werdegang hing – und hängt wohl noch heute – von seiner ideologischen Haltung ab, und über deren Wert befanden »die Massen«, in Wahrheit natürlich die sogenannten Revolutionsausschüsse. Angesichts dieses weitgehenden Verlusts der Menschlichkeit hätte ich im Reiche Maos und seiner Kulturrevolution um keinen Preis der Welt leben wollen, das spürte ich sehr deutlich. Ich empfand Sympathie für die Millionen und aber Millionen von Betroffenen.
Nur in einer einzigen Stadt kamen mir die Menschen, die Jungen wie die Alten, ein wenig fröhlicher vor; das war in Nanjing (Nanking), einer der vielen großen Städte Chinas, die irgendwann einmal Hauptstadt des Reiches gewesen waren. Ein wenig davon spürt man noch immer, auch bei einem flüchtigen Besuch. Die Menschen trugen vielfach nur Hemd und Hose, sahen also bunter aus als die Menschen andernorts. Einer von uns hat in Nanjing sogar ein engumschlungenes Liebespaar gesichtet, während wir überall sonst den Eindruck puritanischer Strenge hatten; jeder Flirt, jedes erkennbare Zeichen von Zärtlichkeit schien unterdrückt zu werden.
Nanjing, eine Platanenstadt, wirkte ganz und gar grün; die Menschen schienen das Leben gelassener und leichter anzugehen. Gewiß spielt auch das Klima eine Rolle. Es ist dort erheblich wärmer als in Beijing, und immer wieder fühlte ich mich an Neapel erinnert. In südlichen Gefilden fällt es der Staatsgewalt offenbar schwerer, formale Disziplin zu erzwingen; vielleicht liegt darin, so dachte ich, eine Hoffnung für den Süden.
In der Erinnerung bleibt vor allem das Bild des Yangtse-Flusses, an dessen Südufer die Stadt liegt. Die Ufer sind relativ flach, deshalb wirkt der enorme, zu Überschwemmungen neigende gelbgraue Strom noch breiter, als er tatsächlich ist, zwei Kilometer. Man war
sehr stolz auf die große Brücke, welche die Sowjets 1960 nach dem Bruch mit China halbfertig zurückgelassen hatten und die dann – wie Hunderte anderer halbfertiger Projekte – von den Chinesen allein zu Ende gebaut worden war. Im Anschluß an eine kleine Dampferfahrt gab es auf der Brücke das für alle Gäste offenbar obligate Gruppenphoto; die kleinen Holztreppchen für diesen Zweck stehen immer bereit.
Der offizielle Besuch eines Regierungschefs läßt wenig Gelegenheit, Eindrücke über Land und Leute zu sammeln. So bekam ich 1975
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