Menschenfänger
es sehr wahrscheinlich, dass sie ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hat.«
»Möglich. Wir sind in eine absolut aufgeräumte Wohnung gerufen worden.«
»Ja, das wäre durchaus typisch für Evelyn: Alles sauber, der Kühlschrank abgetaut, die Fenster geöffnet, damit die Mieter nicht vom Geruch aus der Wohnung belästigt werden, Abschiedsbrief leicht zu finden, irgendwo auf dem Tisch oder der Fensterbank – so war es doch, nicht wahr?« Sie wischte sich energisch ein paar Tränen von der Wange.
»Ja«, bestätigte Nachtigall beklommen.
Er zeigte ihr den Abschiedsbrief, der in einer Hülle steckte.
»Könnte das Ihre Tochter geschrieben haben? Erkennen Sie ihre Schrift?«
Frau Beyer nahm die Hülle mit spitzen Fingern entgegen, als sei sie infektiös. Lange starrte sie schweigend auf die wenigen Worte.
Dann seufzte sie tief.
»Ja – genau diese Worte würde sie wählen. Tja, aber was die Schrift angeht – in jedem Gemütszustand schrieb sie anders. Ging es ihr gut, war die Schrift geschwungen, das Bild harmonisch und fließend. Verschlimmerte sich die Depression, waren die Buchstaben eckig, alles wirkte inhomogen, ja direkt unordentlich. Und hier sind nur Großbuchstaben … Wahrscheinlich stammt der Brief tatsächlich von ihr«, schloss sie, reichte die Hülle zurück und erklärte: »Sehen Sie – Evelyn war seit Jahren latent suizidal. Als ihre Ehe scheiterte, wurde sie sich selbst zur Last. Gerd Knabe hatte eines Tages genug von ihr, nahm sich eine andere und zog von heute auf morgen aus. Evelyn war nicht aufgefallen, dass ihre Ehe schon lange nicht mehr bestand, für sie kam es aus heiterem Himmel und traf sie entsprechend unvorbereitet. Wie so oft im Leben gab sie sich die alleinige Schuld, beschloss, sie sei unattraktiv, und da sie keine Kinder bekommen konnte, fand sie, sie sei auch gar keine richtige Frau. Fortan bezeichnete sie sich als ES. Sie ließ sich nicht davon abbringen.«
»Hatte sie denn keine Freundinnen, die ihr hätten helfen können, ihr Weltbild wieder gerade zu rücken?«
»Nein. Evelyn mied andere Frauen. In ihrer Vorstellung waren alle anderen Frauen perfekt, schön und konnten Kinder in die Welt setzen, soviel sie nur wollten. Alle anderen waren glücklich – nur sie nicht.«
»Aber viele Beziehungen bestehen ohne Kinder!«, wandte Albrecht Skorubski ein, und Nachtigall zuckte wie ertappt zusammen. Conny hatte auch vor ein paar Tagen angedeutet, noch sei es nicht gänzlich zu spät, um über die biologische Funktion des gemeinsamen Spaßes nachzudenken. Es war ihm zwar gelungen, diese Diskussion zunächst im Keim zu ersticken – aber er kannte Conny inzwischen gut genug, um zu wissen, dieses Thema war noch nicht vom Tisch.
»Stimmt schon, viele Paare sind ohne Kinder glücklich. Aber Evelyn behauptete, das sei das Ergebnis einer gemeinsamen Entscheidung. Sie empfand ihre Unfruchtbarkeit als Makel, und dieser Gedanke warf sie aus der Bahn. Als Gerd mit seiner neuen Freundin übers Jahr ein Baby hatte, verlor Evelyn endgültig den Boden unter den Füßen. Nach einem Selbstmordversuch wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen und hielt sich von da an auch noch für eine Psychopathin.«
Nachtigall hatte einen Kloß im Hals. Was für eine unglückliche Frau musste diese Frau Knabe doch gewesen sein. Er konnte das Gefühl absoluter Hoffnungs- und Freudlosigkeit in sich nachspüren.
»Wenn Evelyn sich umgebracht hat, werden Sie in ihrem Tagebuch sicher mehr dazu finden.« Frau Beyer putzte sich die Nase und wischte mit einer flüchtigen Bewegung einige Tränen weg, als wolle sie lästige Fliegen verscheuchen. Diese Assoziation weckte bei Nachtigall die niedergerungene Übelkeit erneut. Dennoch registrierte er, hellhörig geworden, die Existenz eines Tagebuches. Sie hatten in der Wohnung bisher keines gefunden. Vielleicht war es doch ein Mord und der Täter hatte das Tagebuch womöglich mitgenommen, weil Belastendes über ihn darin zu finden gewesen wäre, überschlugen sich seine Gedanken.
»Gab es einen speziellen Ort, an dem Ihre Tochter dieses Tagebuch aufbewahrte?«
»Das weiß ich nicht. Sie fing in der Pubertät mit der abendlichen Schreiberei an und behielt es bei – in den letzten Jahren schrieb sie jeden Abend, weil einer der Therapeuten ihr dazu geraten hatte. Wahrscheinlich finden Sie es im Nachttisch, griffbereit mit Stift.«
»Wir werden das überprüfen. Sie klingen so, als fänden Sie es überflüssig, solche Eintragungen zu machen.«
»Wenn ich ein Leben
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