Menschenfänger
führe, in dem kaum je irgendetwas passiert – da wird mir doch die Ereignislosigkeit durch das Aufschreiben erst recht bewusst! Ich weiß gar nicht, was Evelyn jeden Abend in ihrem Tagebuch festgehalten haben mag – es war absolut nichts los.«
»Warum hat sich Ihre Tochter eigentlich gerade für diesen Beruf entschieden?«, fragte Albrecht Skorubski nach.
»Aus reinem Masochismus. Sie fühlte sich ständig schuldig und bestrafte sich, indem sie einen Beruf wählte, von dem sie wusste, er würde ihr nicht eine Minute lang Freude machen. Es entsprach ihrer Überzeugung, Freude nicht verdient zu haben.«
Sie sah Nachtigall gequält an und stemmte sich ächzend aus dem Sessel hoch. Als sie ans Wohnzimmerfenster trat und in den späten Abend hinaussah, wirkte sie gramgebeugt.
In dem Moment, in dem Skorubski ansetzte, um eine Frage zu stellen, bedeutete Peter Nachtigall ihm schweigend abzuwarten – für Fragen war immer noch Zeit, er wollte erst einmal hören, was Frau Beyer ihnen jetzt von sich aus erzählen wollte.
Nach einer schier endlosen Pause fuhr Frau Beyer mit rauer Stimme fort.
»Diese ständige Angst um Evelyn. Wenn sie die Tür hinter sich zuzog, wusste ich nie, ob ich sie lebend wiedersehen würde. Wenn das Telefon klingelte, dachte ich immer, jetzt ruft mich die Polizei an, Evelyn ist vor ein Auto gelaufen, vom Balkon gesprungen, hat sich vergiftet. Das ist das Problem, wenn sie mit jemandem Kontakt haben, der latent selbstmordgefährdet ist – Sie wissen nie, wie latent. Evelyn erzählte oft, sie wünsche sich nichts sehnlicher als den Tod, und ich wusste nie, wie ernst ich das zu nehmen hatte. Plante sie tatsächlich etwas – oder war das Sprechen über den Tod nur Ausdruck ihrer allgemeinen Stimmungslage und würde sich wieder geben? Als sie an diesem Samstag ging, habe ich gewusst, dass sie keine Reise plant – aber ich wollte es nicht wahrhaben. Trotz meiner inneren Überzeugung, sie plane ihren Tod ganz konkret und dieser Besuch sei ein endgültiger Abschiedsbesuch, hielt ich sie nicht auf, als sie ging. Vielleicht hätte ich es verhindern können – nein – bestimmt hätte ich es verhindern können. Aber ich tat es nicht. Ich war müde.«
Plötzlich drehte sie sich wieder um und sah Nachtigall ausdruckslos an.
»Sie ist so besser dran.«
9
Schweigend fuhren die beiden Kripobeamten ins Büro zurück.
Peter Nachtigall war über die letzten Worte der Mutter sehr betroffen. Er dachte an seine eigene Tochter Jule und an all die Schwierigkeiten, die sie gemeinsam hatten meistern müssen. Zu zweit, weil seine geschiedene Frau zu ihrem neuen Partner nach Norwegen gezogen war und nur locker den Kontakt zu ihrer Tochter aufrecht erhalten hatte. Er wäre sicher nie in der Lage zu glauben, Jule sei besser dran, wenn sie ihre Probleme durch Freitod gelöst hätte – nein, davon war er felsenfest überzeugt, selbst wenn sie keine Hoffnung mehr sehen könnte, würde er ihr eine bieten. Er wäre nicht bereit, sie aufzugeben! Wie konnte diese Mutter nur so überzeugt davon sein, ihre Tochter sei tot besser dran? Vielleicht wäre es schon die nächste Therapie gewesen, die den Durchbruch gebracht hätte, oder das neue Medikament wäre genau das richtige gewesen.
Als er zu Albrecht Skorubski hinübersah, erkannte er, dass sein Freund auch grübelte.
»Sie war noch zu jung, um einfach aufzugeben«, meinte er dann.
»Du denkst, sie hätte kämpfen sollen?«
»Ja. Und ihre Mutter mit ihr. Stell dir vor, sie hätte es geschafft, aus der Dunkelheit ins Licht zu treten – dann wäre für sie doch noch alles möglich gewesen.«
»Und wenn es ihr nie gelungen wäre? Ein Leben in Einsamkeit, Kälte und ewiger Finsternis? Ohne jede Hoffnung auf eine Veränderung. Vielleicht erklärt uns ihr Tagebuch, warum sich ihre Situation akut so verschlechtert hat.«
Nachtigall grunzte unzufrieden, rief Michael Wiener an und bat ihn, die Kollegen in der Wohnung nach einem Tagebuch suchen zu lassen.
Michael Wiener wartete bereits auf seine Kollegen.
»Hallo, schön dass ihr kommt. Ich hab da spannende Informatione aus dem Internet g’zoge.«
Sie setzten sich um Nachtigalls Schreibtisch im angrenzenden Raum.
»Gut, was haben wir?«, eröffnete er die abendliche Besprechungsrunde.
»Die Tote habe mir no net amtlich identifiziere könne. Da muss wohl der Zahnarzt helfe. Die Kleidung habe die Nachbarn aber als die bezeichnet, die sie scho öfter an Frau Knabe g’sehe hätte. Auch die Haarfarb stimmt, ebenso
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