Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
hatte. Sie war ungewöhnlich – Margarete hatte nirgendwo auf der Welt etwas Vergleichbares gesehen. Realistische Szenen, die sich auf halber Höhe in Mythen verwandelten und schließlich in den Gargoyles gipfelten. Über den Architekten von Schloss Falkengrund war ihren nichts bekannt. Dienten die vorspringenden Stellen der Reliefs einem ganz nüchternen Zweck? Dem Zweck, an der Wand emporsteigen zu können, hinauf bis zu den Gargoyles?
Margarete platzierte ihren rechten Fuß auf einem erlegten Reh. Mit den Händen griff sie nach dem hoch erhobenen Gewehr eines Jägers. Den nächsten Fuß setzte sie auf den Rücken eines stattlichen Jagdhundes, und wenn sie sich reckte, konnte sie bereits die dicken, fleischigen Zehen eines Zwerges erreichen. Sie gaben ihr guten Halt, und es gelang ihr, sich daran nach oben zu ziehen. Sie achtete darauf, nicht an den Fenstern vorbeizukommen. Obwohl die Simsen unter den Fenstern keine schlechte Kletterhilfe gewesen wären, wollte sie nicht, dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Auf dieser Seite des Hauses waren die Dreibettzimmer, und falls sie gegen die Fensterscheibe stieß, würde sie sich verraten. Sie zog es vor, dieses Abenteuer alleine zu bestreiten, ohne es zuvor mit den anderen durchdiskutieren zu müssen. Falls die Gargoyles ihr nichts zu sagen hatten, würde man sie wenigstens nicht den Rest ihres Lebens damit aufziehen, dass sie sich von ihnen ernsthaft eine Hilfe erwartet hatte.
Im Nu hatte sie die Höhe des ersten Stockwerks erreicht. Die halbe Strecke lag hinter ihr. Doch nun wurden die Reliefs flacher. Mehrmals glitt ihr Fuß über das zottige Fell eines werwolfartigen Ungetüms, bis sie es aufgab, daran Halt zu suchen. Vorsichtig bewegte sie sich seitwärts an der nassen Wand entlang. Ihre Muskeln begannen sich zu verkrampfen, ihre Finger schmerzten, und ihre Knie zitterten. Auf der Schulter eines Gerippes fand sie einen Platz für ihren Fuß, doch der steinerne Knochen war nur wenige Zentimeter schmal und bot kaum Sicherheit. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht. Ihre Hand tastete über den Stein, ohne einen Punkt zu finden, an dem sie sich festhalten konnte. Knapp über ihr war der Schatten eines der Gargoyles zu sehen. Sie streckte sich danach. Ihr fehlten noch drei, vier Zentimeter, um den Steinkörper überhaupt zu berühren. Daran, sich an ihm festzuhalten, war noch nicht zu denken.
„Langsam, Marg“, flüsterte sie sich zu. „Es muss einen Weg geben.“
Ihr Schuh glitt an dem Schulterknochen des Skeletts ab, sie kippte. Ihre Fingernägel krallten sich in die Wand, dass sie das Bröckeln des Steins spürte. Sie presste ihren Körper gegen die Mauer und wünschte jedes ihrer Pölsterchen zum Teufel. Sekundenlang hing sie dort und wartete voll konzentriert darauf, dass sie vollends abrutschte.
Dann fasste sie neuen Mut, drehte den Kopf in den Nacken und sah sich nach neuen Haltepunkten um. Sie fand gleich zwei solcher Stellen an den Schlangenhälsen einer Hydra. Die Reliefs waren flach, doch die schuppige Oberfläche machte die Hälse weniger glatt als andere Stellen. Mit angehaltenem Atem zog sie sich daran nach oben, nach und nach ihre Füße von der Wand lösend. Der Regen lief nun überall in ihren Mantel hinein, floss innen an den Ärmeln herab und zum Kragen herein, und der dicke Hausanzug, den sie darunter trug, war vollkommen durchnässt. Die Kälte drohte ihre Muskeln zu lähmen, und die Nässe der Kleidung machte ihren Körper noch schwerer.
Zum ersten Mal warf sie einen Blick nach unten. Vier Meter über dem Boden hing sie, ihre Fingernägel brachen, und ihre Füße fanden keinen neuen Halt. Keine ungefährliche Höhe, selbst wenn man bedachte, dass die Erde aufgeweicht war.
„Verflucht aber auch, es muss doch gehen“, knirschte sie und nahm alle Kraft zusammen. Ihr rechter Fuß rutschte unaufhaltsam – jeder Versuch, seine Position zu korrigieren, machte es nur noch schlimmer. Der linke balancierte auf einem winzigen Vorsprung. Ihre Hände glitten langsam über die Hälse der Hydra herab, und das, obwohl sie sich so stark daran klammerte, dass im Stein Kratzspuren zurückbleiben mussten.
Ihre Fingerkuppen rissen auf, und das hervortretende Blut wurde vom Regen sofort weggespült. Margarete hatte das Gefühl, das Wasser wasche das Leben aus ihr. Ihre Finger wurden taub, sie verlor immer mehr den Halt … bis es plötzlich ruckartig nach unten ging.
Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Etwas umklammerte ihren Hals von hinten,
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