Menschenhafen
die Mundwinkel abwischte. Sie wirkte nicht wie jemand, der soeben etwas Unfassbares erzählt hatte, sah eher aus, als hätte sie einfach das mit der Elektrizität erklären müssen, damit man nicht in eine Steckdose griff.
»Ich bin vorsichtig«, sagte Simon. »Glaube ich jedenfalls.«
Sie machten einen Spaziergang durch Norrtälje und sprachen darüber, ob sie ihre jetzigen Wohnverhältnisse verändern sollten, nachdem sie geheiratet hatten. Nun ja, was heißt hier sprechen. Sie machten Scherze darüber. Im Grunde waren sie sich von Anfang an einig, weitermachen zu wollen wie bisher.
Eine Hochzeitsreise kam nicht infrage, aber sie beschlossen einen Kurztrip mit der Fähre nach Finnland und zurück zu buchen. Gut zu essen und wenigstens ein paar symbolische Tanzschritte zu machen, falls Gott und ihre Hüften es zuließen.
Um fünf nahmen sie den Bus nach Nåten, und Viertel vor sechs waren sie wieder an Bord des Zubringerboots. Simon blickte auf das dunkle Meer hinaus und hatte das Gefühl, dass es sich verändert hatte. Er sah nicht mehr die Oberfläche, er sah die Tiefe . Er hatte die Seekarten studiert, er hatte mit Leuten gesprochen und wusste, dass die Domarö-Förde vor Nåten zwischen zwanzig und sechzig Meter tief war. In nördlicher und östlicher Richtung gab es Meeresgräben, die bis zu hundert Meter und noch tiefer waren.
Die Tiefe.
Der kolossale Raum, um den es hier ging, die unermessliche Menge Wasser allein zwischen Domarö und Nåten, das in seiner Finsternis lauerte und einem nur seine harmlose, glänzende Oberfläche zeigte.
Simon sah die Finnlandfähre vor sich, mit der sie bald fahren würden. Silja Symphony. Hunderte von Kabinen und eine lange Einkaufsstraße in der Mitte. Zehn Stockwerke und bestimmt hundertfünfzig Meter vom Bug bis zum Heck.
Er schaute auf das Meer hinab, das um das Vorschiff schäumte, und dachte: Das Schiff könnte hier sinken und verschwinden. Man würde es überhaupt nicht merken. Es würde dort unten liegen.
Ihm lief ein Schauer über den Rücken, und er legte den Arm um Anna-Gretas Schultern, während sie sich Domarö näherten.
Auf dem Schiffsanleger erwartete sie ein Empfangskomitee. Es waren dieselben Menschen, die bereits im Missionshaus zusammengesessen hatten, wenn man einmal davon absah, dass Tora Österberg und Holger fehlten. Und Karl-Erik.
Tora war zu schwach gewesen, um zu kommen, und Holger bewachte zusammen mit Göran Karl-Erik. »Damit er keinen Unfug anstellt«, wie Johan Lundberg sich ausdrückte.
Lasse war ins Krankenhaus von Norrtälje gebracht worden, wo man seine Wunden genäht hatte, aber er hatte sich geweigert, nur eine Minute länger zu bleiben als unbedingt nötig. Als sie ihn nach Hause brachten, war seine Ehefrau Lina genauso aufbrausend gewesen wie er. Sie, normalerweise die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft selbst, hatte Lasses Begleiter angespuckt und angefaucht und war ein ganz anderer Mensch gewesen. Sie hatte ihren Mann ins Haus gelassen, sonst jedoch niemanden. Ihnen nicht einmal eine Tasse Kaffee angeboten.
Das alles erzählten sie Anna-Greta . Simon wurde ausdrücklich ignoriert, und obwohl Anna-Greta seine Hand nahm, um seine Zugehörigkeit zu ihrem Kreis zu betonen, gelang es der Gruppe, sich um sie zu schließen und ihn auszugrenzen. Nach zwei Minuten hatte er genug. Er drückte Anna-Gretas Hand und flüsterte ihr zu, dass er mal nachsehen würde, wie es Anders ging.
Er spürte einen Anflug schlechten Gewissens, als er sich nach ein paar Schritten umwandte und sie auf dem Schiffsanleger stehen sah, bedrängt von finsteren Gestalten, die wie ein Krähenschwarm aussahen. Aber vielleicht war es auch gar kein schlechtes Gewissen, dachte er, als er seinen Weg zu Anders’ Haus fortsetzte. Vielleicht war es Neid.
Sie gehört euch nicht. Sie gehört mir. Mir!
Das Haus lag dunkel und still, aber als Simon in die Küche kam, sah er, dass unter der Schlafzimmertür Licht herausdrang. Er öffnete sie behutsam und fand Anders schlafend in Majas Bett, den Arm um eine Tino-Tatz-Puppe gelegt. Simon rührte sich nicht und betrachtete ihn eine Weile, ging dann wieder hinaus und schloss lautlos die Tür hinter sich.
In der Küche machte er Licht, suchte Papier und einen Stift heraus und notierte den Termin der Hochzeit. Als er gehen wollte, fiel sein Blick auf die Stiftplatte. Er studierte sie eingehend, fügte seiner Nachricht noch ein paar Worte hinzu und verließ das Haus.
Anna-Greta war schon zu Hause. Im Grunde hatte es
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