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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sah Spiritus in seinem kleinen Gefängnis hoppeln wie ein morbides Spielzeug.
    Er wusste immer noch nicht, was er tun oder wie er es tun sollte, eines aber wusste er: Während ihres langen Augenkontakts hatte Simon ihm seine Zustimmung gegeben. Tu, was du tun musst.
    Anders bezwang seinen Widerwillen und wölbte die Hand über der Schachtel. Als es seine Körperwärme, seine Nähe spürte, kam das Insekt zur Ruhe, und er wurde sich all dessen bewusst, was floss.
    Sein Körper war ein unüberschaubares System aus größeren und kleineren Kanälen, durch die in Form von Blutplasma Wasser floss. Sein Schulwissen sagte ihm, dass das Plasma Blutkörperchen, Thrombozyten, mit sich trug, die er jedoch weder sehen noch spüren konnte, er sah nur trübes Wasser, das vom Herzen im Kreis gepumpt wurde, in seine Adern, und er sah und wusste, dass er bis in die sprödesten Zweige hinein ein Baum war. Ein aus Wasser erschaffener Baum.
    Nicht mit der gleichen Kraft einer Offenbarung, aber doch sehr deutlich spürte er zudem alles Wasser, das im Haus floss oder stand. Das Netz der Wasserleitungen wurde in den Wän den sichtbar wie auf einem Röntgenbild, und die wassergefüllten Flaschen aus seinem Haus …
    Jetzt … jetzt …
    Er schloss die Hand um eine der Flaschen auf dem Fußboden, während er seine andere Hand weiter über die Streichholzschachtel hielt. Er spürte das Wasser in ihr, und ob er das tat. Sonst jedoch nichts. Es war wie mit dem Blut: Er konnte nur spüren, was Wasser war, das aber dafür umso deutlicher.
    Er betrachtete seine Hand, die über die Schachtel gewölbt lag, und musste an zwei Zeilen eines Gedichts von Tomas Tranströmer denken. Er war kein großer Lyrikleser, hatte aber so oft angefangen, Tranströmers Gesammelte Gedichte zu lesen, dass er das erste Gedicht auswendig konnte.
    In den ersten Stunden des Tages kann das Bewusstsein die Welt umschließen
    Wie die Hand einen sonnenwarmen Stein greift.
    So war es, allerdings mit der Einschränkung, dass die Welt, die sein Bewusstsein umschloss, der Teil war, der aus Wasser bestand. Er konnte ihm durch die Kaltwasserleitung folgen, den Tropfen spüren, der von dem undichten Wasserhahn in der Küche fiel, wo er für eine halbe Sekunde den Kontakt zu ihm verlor, bis er sich dem dünnen Wasserfilm anschloss, der sich einen Weg durch die Abflussleitung und in ein größeres Gewässer bahnte, das außerhalb seiner Reichweite lag.
    Er ließ die Schachtel los, und die Wahrnehmung klang mit jedem Zentimeter ab, den er seine Hand entfernte. Als sie sein Gesicht erreichte und darüberstrich, war das Gefühl verschwunden. Er war wieder ein Mensch und kein Baum.
    Man kann schon aus geringeren Gründen verrückt werden.
    Als Zwanzigjähriger war er einmal auf einem Fest gewesen und neben einem Typen gelandet, der sich gerade eine blaue Pille in den Mund geschoben hatte. Sie saßen an einem Glastisch, und der Typ hatte den Tisch angestarrt. Zwei Minuten später war er in Tränen ausgebrochen. Anders hatte ihn gefragt, warum er weinte.
    »Weil es so schön ist«, hatte der Typ mit belegter Stimme geantwortet. »Das Glas. Ich sehe es, kapierst du? Woraus es gemacht ist, wie es ist. Die ganzen Kristalle, die Windungen, die kleinen, winzig kleinen Luftblasen. Glas , kapierst du? Kapierst du, wie schön es ist?«
    Anders hatte sich den Tisch angesehen und nichts Besonderes an ihm finden können, wenn man einmal davon absah, dass es sich um einen ungewöhnlich hässlichen und klobigen Glastisch handelte, aber er hatte es sich verkniffen, das zu sagen. Möglicherweise hatte sich der Typ noch mehr in den Mund geschoben, denn später fanden sie ihn in einer Schneewehe, in die er sich eingegraben hatte. Als Grund gab er an, sein Blut habe angefangen zu kochen.
    Man kann verrückt werden.
    Vielleicht ist es ja so, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, das Glas zu durchleuchten, das Wasser zu erleben, wenn wir ein Hilfswerkzeug bekommen, um die Möglichkeiten unseres Gehirns und aller sinnlichen Wahrnehmungen restlos auszuschöpfen. Aber das tun wir nicht, denn es würde uns umbringen. Wir verzichten, um leben zu können.
    Anders trank zwei Schlucke Wasser und legte sich wieder ins Bett. Die intensive Wahrnehmung des geheimen Lebens allen Wassers hatte ihn zwar ermattet, aber nicht schläfrig gemacht, sodass er stundenlang zusammengekauert dalag und die gegenüberliegende Wand anstarrte, auf der sich das Muster der Tapete zu Molekularstrukturen unbekannter Grundelemente

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