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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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formte.
    Erst als das erste Licht des Morgengrauens zum Fenster hereinsickerte und die Tapete grau tünchte, schlummerte er langsam ein. Wie aus weiter Ferne hörte er in Simons und Anna-Gretas Schlafzimmer den Wecker klingeln und sah sie vor sich, wie sie aufstanden und sich für ihre kleine Hochzeitsreise anzogen.
    Macht es gut, ihr Süßen.
    Ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen, als er einschlief.

DIE ABGEWANDTEN
    Treppen, die aufwärtsführen,
obwohl sie eigentlich abwärtsführen …
    KALLE SENDER
    Maja
    »Lass mich los! Lass mich los!«
    Ich kann ihn nicht leiden. Er sieht eklig aus. Ich schreie. Der andere kommt und legt mir seine Hand auf den Mund. Ich beiße ihn. Das schmeckt nach Wasser. Warum kommen Mama und Papa nicht?
    Sie tragen mich irgendwohin. Ich will nicht. Ich will zu Mama und Papa. Mir ist zu warm. Der Schneeanzug ist zu warm. Wir gehen auf einer Treppe. Ich schreie noch mal. Man hört nichts davon. Dann fange ich an zu weinen. Die Treppe ist lang.
    Ich will gucken, um mir den Weg zurück zu merken. Es gibt keinen Weg. Es gibt nur eine Treppe. Und die geht nicht.
    Ich weine. Ich hab nicht mehr so viel Angst. Ich will nicht mehr schreien. Nur noch weinen.
    Dann wird es wärmer und riecht gut. Sie halten mich nicht mehr ganz so fest. Ich wehre mich nicht. Ich höre auf zu weinen.
    Das Lastenmoped
    Anders saß bereits senkrecht im Bett, als ihm bewusst wurde, dass er wach war. Sein Körper war in Schweiß gebadet, und das Herz schnürte sich zusammen, als er glaubte, sich in einer Zelle zu befinden. Dann erkannte er die Wände und das Muster auf der Tapete wieder und begriff, dass er noch im Haus seiner Großmutter im Gästezimmer lag.
    Aber er war dort gewesen, in Majas Erinnerung.
    Er hatte die Angst und die Wärme empfunden und aus seiner eigenen Lunge geschrien. Er hatte die unfassbare Treppe und Henrik und Björn gesehen. Henrik hatte ihn getragen und Björn ihm den Mund zugehalten, wenn er schrie.
    Ein Traum. Das war ein Traum.
    Nein. Auch Elin hatten Erinnerungen geplagt, die nicht ihre eigenen waren. Bilder, von denen sie überhaupt nichts wissen konnte. Die Erinnerungen der anderen. Hier ging es um das Gleiche.
    Henrik und Björn. Hubba und Bubba.
    Er wusste, was er zu tun hatte. Über dem Fußende des Betts hingen die Festtagskleider, aber er verwarf sie und holte seine eigenen Sachen, die in der Ecke lagen. Obwohl sie unfreiwillig im Meer gespült worden waren, rochen der fluselige, dunkelblaue Helly-Hansen-Pullover und die abgewetzte Jeans immer noch muffig nach abgestandenem Rauch, verschüttetem Wein und Angstschweiß. Das würde sich erst durch einen richtigen Waschgang ändern.
    Trotzdem. Das war seine Uniform. Er zog sie in der festen Absicht an, sie zu tragen, bis alles vorbei war. Er sammelte Flaschen und Zeitungen vom Fußboden auf. Als er die Striche in seinem Tino-Tatz-Comic betrachtete, sah er, dass die Zickzacklinie, die er für einen Tempel gehalten hatte, ebenso gut eine Treppe sein konnte.
    Er trank ein paar Schlucke Wasser. Die Wahrnehmung von Majas Gegenwart in seinem Körper war ihm nun wieder so vertraut, dass er sie nicht spürte, nur wusste, dass es sie gab. Als er das Wasser geschluckt hatte, öffnete er die Streichholzschachtel.
    Das Insekt war gewachsen und inzwischen so fett, dass es nur mit Mühe Platz fand in der Schachtel.
    Als Anders einen schweren Tropfen Speichel auf das Tier fallen ließ, erwachte es zum Leben und begann sich in seiner engen Behausung zu winden. Anders schob die Schachtel wieder zu, schloss die Hand darum und erlangte ein weiteres Mal das allumfassende Bewusstsein vom Wasser, das ihn umgab und in ihm war.
    Er spürte die Bewegungen der Larve durch die dünne Pappe und hatte ein wenig Mitleid mit ihr. Doch das war nicht der richtige Moment, sich über Tierquälerei und die Rechte von Insekten den Kopf zu zerbrechen. Außerdem war es kein Insekt, hatte Simon am Küchentisch gesagt. Es hatte keinen eigenen Willen, keine andere Absicht, als für seinen Träger eine Kraftquelle zu sein. Eine Art Batterie. Spiritus.
    Anders nahm Majas Schneeanzug unter den Arm und ging die Treppe zur Küche hinunter. Es war kurz nach elf. Auf dem Tisch fand er einen Zettel mit einem Text in Anna-Gretas Handschrift. Er solle gut auf sich aufpassen, alles, was er brauche, gebe es im Haus, er müsse eigentlich gar nicht hinausgehen.
    In der Kaffeemaschine war noch etwas Kaffee, und Anders goss sich eine Tasse ein. Während er trank, spürte er jede noch

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