Menschenhafen
Richtung.
»Hast du schon mal von dem Bootswrack auf den Felsen auf Ledinge gehört? Als ich jung war, gab es noch Trümmer davon, aber heute ist es fort. Das war sein Boot. Ich weiß nicht, was er getan hat, wodurch er das Meer gereizt hat. Jedenfalls hat man später dort sein Boot gefunden. Weit auf dem Land, auf einer Anhöhe. Zerschellt.«
»Entschuldige bitte«, sagte Simon. »Hast du gerade gesagt, dass er aus dem westlichen Dorf stammte?«
»Ja«, antwortete Anna-Greta. »Darauf wollte ich hinaus. Sein Haus und alle Häuser ringsum … verschwanden. Von Westen zog ein Sturm auf. Und ihr wisst ja: Bei uns kommen die Stürme nicht von Westen, von der Festlandseite. Das ist unmöglich. Aber dieser kam von dort. Und er kam nachts. Von einem Moment zum anderen erreichte der Wind Orkanstärke. Acht Häuser wurden … zermalmt. Fünf Menschen starben. Drei von ihnen waren Kinder, die sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.«
Während ihrer letzten Sätze hatte sie den Blick unverwandt auf Anders gerichtet. »Nicht zu vergessen der Mann, der vorher aufs Meer hinausgefahren war. Und das Ganze ausgelöst hat.« Als Anders stumm blieb, fügte sie hinzu: »Und was vor noch längerer Zeiten mit Domarö geschehen ist, das weißt du ja. Das haben wir dir gestern erzählt.«
Anders griff nach der Plastikflasche und trank ein paar Schlucke. Er gab keine Antwort. Anna-Gretas Gesicht verzerrte sich zu einer Miene zwischen Mitgefühl und Wut, es war eher eine Grimasse.
»Ich verstehe, was du empfindest«, sagte sie. »Besser gesagt … ich ahne es. Aber es ist gefährlich. Nicht nur für dich, sondern für alle, die hier leben.« Sie streckte ihre Hand über den Tisch und legte sie auf Anders’ eiskalten Handrücken. »Ich weiß, dass es schrecklich klingt, aber … ich habe gesehen, dass du dir gestern in Nåten den Anker angesehen hast. Es gibt viele Menschen, die, wenn man so will, auf natürliche Art ertrunken, verschwunden sind. Maja hätte eine von ihnen sein können. Man kann es so sehen. Und entschuldige, dass ich es sage, aber … du musst es so sehen. Dir zuliebe und allen anderen zuliebe.«
Überlassung (wir sind geheim)
Anders saß im Gästezimmer auf der Bettkante. Unter allen Bildern, die ihm im Laufe des Abends durch den Kopf geschossen waren, gab es eins, das ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn wollte, das ihm keine Ruhe ließ.
Sie hat ihren Schneeanzug nicht.
Er hatte ihn selbst aus der Küche mitgenommen und vorsichtig auf den Stuhl unter dem Fenster gehängt. Jetzt nahm er ihn in die Arme und wiegte sich vor und zurück.
Sie friert an dem Ort, an dem sie ist.
Wenn er ihr nur den Schneeanzug anziehen können dürfte, wenn er nur das für sie tun können dürfte. Er strich mit der Hand über den leicht abgewetzten Biber-Nylonstoff, über den Flicken mit Tino Tatz und den Honiggläsern.
Simon und Anna-Greta waren vor einer Stunde ins Bett gegangen. Anders hatte angeboten, im Erdgeschoss auf der Couch zu schlafen, falls sie … in ihrer Hochzeitsnacht ungestört sein wollten. Daraufhin hatten beide ihm versichert, dass es ihnen nichts ausmachte, wenn Leute in der Nähe waren, dass die Hochzeitsnacht eine Nacht wie jede andere war. Eine stille Nacht.
Anders umarmte den Schneeanzug und war hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Einer normalen, in der seine Tochter vor zwei Jahren ertrunken und zu einem der vielen Menschen geworden war, die auf dem Meer verschwanden, eine Welt, in der man darüber sprechen konnte, auf der Couch zu schlafen und eine nachsichtige Antwort bekam, in der Menschen heirateten und zu einer Sandwichtorte einluden.
Und dann gab es da noch diese andere Welt, in der Domarö im Schoß finsterer Mächte lag, die das Eiland in einem eisernen Griff hielten. In der man sich bei jedem Schritt in Acht nehmen und damit rechnen musste, jeden Moment aus der menschlichen Gemeinschaft herausgerissen zu werden. Damit nicht alles verschwand.
Tino, Tino, Tino …
Deshalb hatten Maja die Geschichten mit Tino Tatz meistens so gut gefallen. Es gab Probleme, es gab Böse und Dummköpfe. Aber das Ganze war niemals wirklich gefährlich. Es gab keinen echten Zweifel daran, wie man sich verhalten sollte. Im Grunde wussten es alle. Sogar Krösus Wühlmaus. Er war ein Böser, weil er ein Böser war, nicht weil er innerlich gespalten und ängstlich war.
Und es gab Tino Tatz. Immer auf der Seite des Guten. Beschützer der Schwachen und der ewig Rechtschaffene.
Aber er
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