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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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estnischen Schoner verabredet und es für das Sicherste gehalten, auf der kleinen Insel zu übernachten.
    Mitten in der Nacht wird ihr Vater davon wach, dass es an die Tür klopft. Es ist eine einfache Schuppentür, und der vorgelegte Haken hüpft unter den kräftigen Schlägen in seiner Ösenschraube. Er denkt, dass ihm der Zoll auf der Spur ist, aber diesmal schlagen sie zu früh zu. Er hat nichts dabei, was sie beschlagnahmen können, und es wird ihm keine Probleme bereiten, seine Übernachtung zu rechtfertigen – um den Schein zu wahren, hat er seine Vogelflinte mitgenommen. Seelenruhig geht er hin und öffnet die Tür.
    Da ist niemand. Es ist kein Mensch in der Nähe, und nur sein eigenes Boot liegt am Steg. Sicherheitshalber steckt er jedoch das Geld ein, das er für den Schnaps zahlen soll, und dreht mit der Flinte in der Hand eine Runde um die Insel. Es gelingt ihm, ein paar Eiderenten aus einem Schilfröhricht aufzuschrecken, aber das ist auch schon alles.
    Im Morgengrauen macht er sich auf den Weg zum verabredeten Treffpunkt. Nach einigen Seemeilen erblickt er den Frachter, der unmittelbar hinter dem Ende der Zone vor Anker liegt.
    Dann hört man einen Knall.
    Anfangs glaubt er, dass es sein eigener Motor gewesen ist, dann aber begreift er, dass der Knall eine zu tiefe Frequenz gehabt hat, dass er von außen gekommen sein muss. Er hebt das Fernglas und späht zu dem Frachter hinüber, mit dem er verabredet ist.
    Mit dem Schiff ist etwas passiert. Zunächst kann er nicht sehen, was es ist, aber als er näher herankommt, erkennt er, dass der Frachter Schlagseite bekommen hat und sinkt. Als er sein Ziel erreicht, ist er verschwunden. Er sucht mit dem Fernglas die Meeresoberfläche ab, aber es gibt nichts zu sehen.
    »Vier Mann und mindestens tausend Liter Branntwein sind in der Tiefe verschwunden«, erzählte der Vater hinterher. »Das wollte mir der erzählen, der an die Tür hämmerte. Dass Unheil drohte.«
    Anders’ Großmutter hatte die Geschichte mit den gleichen Worten wiedergegeben, und seither war es eine Formulierung, die Anders zuweilen durch den Kopf schoss, wenn etwas beschrieben werden sollte. Sie kam ihm auch jetzt in den Sinn, als er die Tür untersuchte, an der keine Spuren desjenigen zu sehen waren, der geklopft hatte.
    Es droht Unheil .
    Er blickte zu den Kiefern hinauf, deren schwankende Wipfel sich dort, wo der Lichtkegel der Lampe endete, in der Dunkelheit verloren. Eine lose Dachplatte auf dem Holzschuppen schlug ein einziges Mal, als wollte sie es noch einmal unterstreichen.
    Es droht Unheil .
    An Schlaf war nicht mehr zu denken. Anders machte Feuer im Herd, saß anschließend am Küchentisch und starrte die Wand an. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit lauwarmer Grütze gefüllt, die in eine paradoxe Hülle aus Deutlichkeit eingeschlossen war. Er konnte klare Gedanken fassen, aber keine tiefgründigen.
    Der Wind pfiff um die Wände, und Anders fröstelte. Plötzlich fühlte er sich ausgesetzt . Wie ein unerwünschtes Kind im Wald. Ausgesetzt. Sein zerbrechliches kleines Haus stand allein, ausgesetzt auf der Landzunge. Das tiefe Meer presste sich nach oben und streckte seine Arme aus. Der Wind schlängelte sich um es herum, ließ seine Muskeln spielen und suchte nach Wegen ins Innere.
    Es droht Unheil. Es will mir etwas antun .
    Was »es« war, wusste er nicht. Nur dass es groß und stark war und ihm etwas antun wollte. Dass seine Befestigungen schwach waren.
    Der alte Wein schmeckte nach faulem Obst in seinem Mund, und er trank einen halben Liter Wasser direkt aus dem Hahn, um den Geschmack auszuspülen, aber das Wasser war auch nicht viel besser. Wahrscheinlich war Salzwasser in den Brunnen eingedrungen, das Trinkwasser hatte einen schweren metallischen Geschmack. Anders wusch sich das Gesicht und trocknete es mit einem Küchenhandtuch ab.
    Ohne zu überlegen, ging er ins Schlafzimmer, holte den Eimer mit den Plastikperlen und saß daraufhin am Küchentisch, suchte welche heraus und steckte sie auf. Als Erstes machte er ein rotes Herz. Danach ein zweites Herz in Blau, um das erste herum. Dann eins in Gelb und so fort. Wie eine russische Ma troschka, Herzen, die sich in Schichten umeinanderlegten. Als er den Rand erreichte, stand er auf und legte Holz nach.
    Die Perlen, die er benutzt hatte, um seine Herzplatte zu stecken, hatten den Pegel im Eimer nicht spürbar gesenkt. Er hatte reichlich Perlen und jede Menge Stiftplatten. Er hätte gerne eine größere Platte gehabt, mit

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