Menschenhafen
gehen. Schon als er mit seinem Boot ablegte, hatte er wieder diesen Geschmack im Mund gehabt, der während der Überfahrt immer stärker wurde. Der Geschmack von altem Holz oder faulen Nüssen wuchs aus seinem Mund, gelangte ins Blut und breitete sich in den Muskeln aus.
Als er die Benzinzufuhr drosselte, um in Nåten am Steg anzulegen, musste er sich über die Reling hinweg erbrechen. Er wusste, woran es lag, weigerte sich jedoch nachzugeben und fuhr möglichst langsam auf den Steg zu. Als das Boot gegen einen Pfahl stieß, war ihm, als würde sein Köper von innen nach außen gekehrt. Er übergab sich, bis nur noch Galle kam.
Es war eine Übelkeit, die größer war als alles, was der Körper selbst hervorrufen konnte, ein septischer Schock wie bei einer akuten Vergiftung. Als sich sein Magen in Krämpfen wand, kauerte Simon sich auf der Achterducht zusammen und schaffte es, die Pinne so zu drehen, dass der Bug erneut Richtung Domarö zeigte.
Er war überzeugt, sterben zu müssen, und saß auf dem gesamten Rückweg nach Domarö zusammengekauert wie ein Embryo, während tiefe, feuchte Rülpser wie die Rufe eines Rehs aus ihm drangen und sein Körper verrottete.
Ihm fehlte die Kraft anzulegen, weshalb er das Boot ans Ufer steuerte und auf den Knien durchs seichte Wasser, über das Steinufer, den Rasen und ins Haus kroch. Als er die Streichholzschachtel aus der Schublade holte, war sein Mund so ausgedörrt vom Übergeben, dass er Minuten benötigte, um so viel zähen Speichels zu sammeln, dass er Spiritus geben konnte, was Spiritus forderte. Es dauerte Tage, bis er sich wieder völlig erholt hatte und sein Körper zu Kräften gekommen war.
Seither achtete er sorgsam darauf, jeden Morgen in die Streichholzschachtel zu spucken. Er wusste nicht, was ihn am Ende des Pakts erwartete, den er geschlossen hatte, wusste aber, dass er ihn einhalten musste, solange er lebte.
Und dann?
Was dann kam, entzog sich seiner Kenntnis. Aber er fürchtete das Schlimmste, in irgendeiner Form. Und er bereute es. Dass er Spiritus damals nicht vom Steg gefegt hatte. Ins Meer, wo er hingehörte. Das bereute er.
Doch jetzt war es zu spät.
Simon trank einen Schluck Kaffee und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel war so hoch und klar, wie er es nur im Herbst sein konnte, gelbe Birkenblätter segelten herab. Nichts deutete darauf hin, dass schon bald ein Sturm aufziehen würde, was Simon wusste, wie er viele andere Dinge wusste. Wo es Wasser im Erdreich gab, wann das Meer zufrieren und wie viel Regen fallen würde.
Als die Kaffeetasse geleert und gespült war, zog Simon seine Arbeitsstiefel an und ging hinaus. Es war eine Angewohnheit der Inselbewohner, die er übernommen hatte: Bei jeder Ge legenheit wurden Arbeitsstiefel angezogen. Man wusste nie, wohin man unter Umständen marschieren musste, und da war es am einfachsten, jederzeit vorbereitet zu sein.
Vielleicht waren mit dem ersten Zubringerboot die Post und Zeitungen gekommen, und wenn nicht, gab es immer ein paar alte Männer bei den Briefkästen, die auch nichts Besseres zu tun hatten, als nachzusehen, ob die Post schon mit dem ersten Boot gekommen war. Was selten der Fall war.
Auf seinem Weg zu den Briefkästen warf er einen Blick in den Weg, der zu Anders hinunterführte. Dort gab es jede Menge Arbeit, und vielleicht war das gut für Anders. Seine Hände mit etwas beschäftigen zu können war ein gutes Heilmittel für düstere Gedanken, das wusste er aus eigener Erfahrung. In den schlimmsten Phasen seines Lebens mit Marita, seiner ersten Frau, hatte nur das Training mit Kartenspielen, Taschentüchern und anderen Utensilien zwischen ihm und den Panikattacken gestanden.
In seinem Leben mit Anna-Greta sah das natürlich ganz anders aus. Darin ging es meistens um Melancholie, die er mit Kartentricks in die Flucht geschlagen hatte. Soweit er wusste, hatte Anders kein Hobby, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte, weshalb Unkraut, abblätternde Farbe und Brennholz, das gespalten werden musste, durchaus ihre Vorteile haben mochten.
Schon aus hundert Metern Entfernung sah er, dass die Gesprächsrunde an den Briefkästen heute aus Holger und Göran bestand. Sie waren unverwechselbar. Holger zusammengekauert und von Enttäuschungen verbittert, die bereits in seiner Jugend begonnen hatten, Göran immer noch mit tadelloser Haltung nach gut vierzig Jahren im Polizeidienst.
Aber was zum …?
Die beiden Männer waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Holger schüttelte den Kopf
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