Menschenhafen
Hand und seiner Zähne öffnete. Er ließ die Spitze der Klinge direkt über Simons willenlosem kleinem Finger liegen.
Erneut schien Rolf einige Zeit zu benötigen, um die richtigen Worte zu finden. Er betrachtete Simons Gesicht, seine Hand. Er sah aus, als könnte er nicht begreifen, wie es zu dieser Situation gekommen war, und als bräuchte er deshalb nun einen Moment Bedenkzeit, ehe er weitermachen konnte. Simon rührte sich nicht und beobachtete eine kleine Wolke, die über Rolfs Kopf vorbeizog. Für einen kurzen Moment sah es aus, als hätte Rolf einen Glorienschein. Dann hing sie schief, löste sich von ihm und trieb weiter. Draußen auf dem Wasser schrie eine Möwe, und während weniger Sekunden empfand Simon vollkommenen Frieden. Dann ergriff Rolf das Wort.
»Du bist doch Zauberer. Du brauchst deine Finger. Oder nicht?«
Simon sagte nichts, rührte sich nicht. Er lauschte dem Schlagen der Wellen gegen die Ufersteine. Das klang gesund und gut. Er hatte schrecklichen Durst. Rolf hatte den richtigen Gedankengang gefunden und fuhr fort: »Jetzt geht es so weiter, dass ich dir den kleinen Finger abschneide. Dann nehme ich mir … wie heißt der noch? Den Ringfinger. Und breche ihn. Anschließend schneide ich ihn ab. Und so weiter.«
Rolf nickte bestätigend zu seinen eigenen Ausführungen und schien zufrieden, sich so klar und deutlich ausgedrückt zu haben. Er fasste zusammen: »Und dann ist Schluss mit der Zauberei. Es sei denn …«
Er sah Simon an und hob die Augenbrauen, ermahnte Simon, den Satz zu vollenden. Als Simon das nicht tat, seufzte Rolf und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an Marita, die zusammengekauert auf dem Rasen saß und das Geschehen unter halb geschlossenen Lidern verfolgte.
»Du hast doch gesagt, es würde ein Kinderspiel sein.«
Marita machte wieder diese Wellenbewegung mit dem Kopf, die sich wahlweise deuten ließ. Rolf verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sagte zu Simon: »Tja, du bist selber schuld. Da lässt sich nichts machen.«
Er wandte seine Aufmerksamkeit Simons Hand auf dem Stein zu. Er brauchte nur zudrücken, dann war der Finger fort.
»Aufhören!«
Anna-Gretas gellende Stimme durchbrach die paradoxe Ruhe, die für ein oder zwei Minuten geherrscht hatte. Rolf drehte den Kopf und sah in erster Linie müde aus. Anna-Greta ging mit einer doppelläufigen Schrotflinte in der Hand auf ihn zu.
»Geh weg von ihm!«, schrie sie.
Es trat eine lange Pause ein. Anna-Greta stand einen Meter von Rolf entfernt und richtete die Läufe der Flinte auf ihn. Rolf war erneut mit einer gründlichen Analyse des Geschehens beschäftigt. Seine Augen blickten aufs Meer hinaus, und seine Lippen bewegten sich. Dann stand er auf. Die Läufe der Flinte zeigten direkt auf seine Brust.
»Lass das Messer fallen«, sagte Anna-Greta.
Rolf schüttelte den Kopf. Dann klappte er mit umständlicher Sorgfalt das Messer zu und steckte es in die Tasche. Die Flintenläufe zitterten, als Anna-Greta mit ihnen eine Bewegung Richtung Schiffsanleger machte.
»Geht weg. Haut ab!«
Erst jetzt wurde Simon bewusst, dass er anwesend war und sich aktiv an den Vorgängen beteiligen konnte. Sein Arm war eingeschlafen, und als er ihn an den Körper gezogen hatte, fiel es ihm schwer, aufzustehen. Er schaffte es nur, sich aufzusetzen, woraufhin der Rasen begann, sich wie ein Schiffsdeck von einer Seite zur anderen zu neigen.
Rolf machte einen Schritt auf Anna-Greta zu, die zurückwich und dabei das Gewehr hob und senkte.
»Bleib stehen! Oder ich erschieße dich!«
»Nee«, widersprach Rolf seelenruhig und streckte den Arm nach der Flinte aus. Anna-Greta wich nochmals zurück, und die Schlacht war verloren. Als Rolf erneut nach den Läufen der Flinte griff, zog sie das Gewehr zur Seite, statt abzudrücken. Rolf machte einen schnellen Schritt nach vorn und versetzte ihr mit der flachen Hand einen Schlag aufs Ohr. Anna-Greta stolperte zur Seite. Die Schrotflinte flog in den Haselstrauch, und Anna-Greta sank auf den Rasen, wimmerte und presste ihre Hand aufs Ohr.
Während Simon aufzustehen versuchte, hörte er Maritas Stimme: »Ist er nicht unglaublich?«
Anna-Greta lag einige Meter entfernt, und Rolf beugte sich über sie. Simons Gehirn arbeitete nicht richtig, er konnte sich nicht entscheiden, ob er den Spaten holen oder sich nach vorn werfen sollte.
Doch ehe er seinen Gedankengang zu Ende führen konnte, hörte man ein Surren wie von einem großen Insekt. Es knackte, und Rolf wurde zu Boden geschleudert.
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