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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sehr schmerzhaft. Etwa fünfzehn Schrotkörner waren in seiner linken Schulter und dem Oberarm rund ums Schulterblatt in Muskeln und Gewebe eingedrungen. Er wurde provisorisch verbunden, um die Blutung zu stillen, und man rief einen Krankenwagen. Göran schrieb einen vorläufigen Bericht, der im Polizeipräsidium von Norrtälje noch vervollständigt werden musste. Simons kleiner Finger wurde geschient.
    Marita war wie gewohnt verschwunden, und sie erfuhren später, dass sie es gerade noch rechtzeitig zum Zubringerboot geschafft hatte, ehe man ernsthaft anfing, nach ihr zu suchen. Rolf wurde nach Norrtälje gebracht, und Göran und Doktor Holmström gingen heim, nachdem man sich darauf verständigt hatte, am nächsten Tag gemeinsam zum Polizeipräsidium zu fahren.
    Simon, Anna-Greta und Johan saßen schweigend in der Fliederlaube. Die zerfetzten Blätter waren das Einzige, was noch davon zeugte, dass ihnen nur zwei Stunden zuvor die Finsternis einen ungebetenen Besuch abgestattet hatte. So wie die schwache Bewegung eines Fingers einen zerstörerischen Schwarm von Schrotkörnern zu entfesseln vermag, kann ein Geschehen, das kaum länger als fünf Minuten gedauert hat, noch Tage und Jahre später nachbeben. Die Konsequenzen lassen sich nicht überblicken, man hätte sich zu viel zu sagen, und das Ergebnis ist Schweigen.
    Johan trank eine Limonade, Simon trank ein Bier, und Anna-Greta trank nichts. Sie alle hatten sich in dem komplizierten Gewebe, das aus einer simplen Gewalttat entstand, zu verschiedenen Zeitpunkten gegenseitig gerettet. Dankbarkeit und Scham vermengten sich zu einem Chaos, Worte fielen ihnen schwer.
    Simon tastete seine Bandage ab und sagte leise: »Es tut mir leid, dass ihr in die Sache hineingezogen worden seid.«
    »Das braucht es nicht«, erwiderte Anna-Greta. »Es lässt sich nicht ändern.«
    »Nein. Aber es tut mir trotzdem leid. Ich bitte um Entschuldigung.«
    Als sich der erste Schock gelegt hatte, begannen sie trotz allem, tastend über das Geschehen zu sprechen. Die Unterhaltung wurde im Laufe des Nachmittags und oben bei Anna- Greta und Johan, wo sie ein schlichtes Abendessen zu sich nahmen, fortgesetzt. Gegen neun stellte sich ein anderes Schweigen ein, eine Art Materialermüdung in der Sprache. Sie ertrugen das Geräusch ihrer Stimmen nicht länger, und Simon ging zu seinem Haus hinunter.
    Er setzte sich an den Küchentisch, löste ein Kreuzworträtsel, um sich zu zerstreuen, und schnitt ausnahmsweise das Lösungswort aus, schrieb seine Adresse dazu und legte es in einen Briefumschlag. Der Sommerabend war vor dem Fenster noch violett, und er bereute es, dass er das Angebot abgelehnt hatte, im großen Haus auf der Küchenbank zu übernachten. Die Ereignisse des Tages gingen ihm nicht aus dem Kopf. Bis heute war seine Zukunft zwar düster, aber vorhersehbar gewesen, er hatte sich weiter durch die Jahre waten sehen können. Jetzt sah er nichts mehr.
    So wie der Rückschlag der Flinte ihn nach hinten geworfen hatte, war er beim Abfeuern des Schusses aus sich selbst herausgeschleudert worden. Ihn erschreckte nicht die Handlung an sich – sie war eine Folge von Panik und Notwendigkeit gewesen –, sondern das, was sich in seinem Inneren abgespielt hatte.
    Als er den Abzug drückte, hatte er Rolfs Kopf explodieren gesehen, ja, er hatte die Absicht gehabt, Rolfs Kopf zu zerfetzen. Als Anna-Greta hinterher auf die Flinte gezeigt und Simon bemerkt hatte, dass er noch einen Schuss hatte, war seine spontane Eingebung gewesen, auch Marita zu erschießen. Sie hinzurichten. Ihren Kopf hochgehen zu lassen. Sie auszulöschen.
    Nichts davon hatte er getan. Aber er hatte es gedacht und eine unbändige Lust verspürt, es auch zu tun. Möglicherweise hätte er seinen Vorsatz sogar in die Tat umgesetzt, wenn es keine Zeugen gegeben hätte. Er war in eine andere Version seiner selbst geschleudert worden, einen Menschen, der töten wollte, was ihm im Weg stand. Das war einerseits kein angenehmer Gedanke, andererseits war es aber auch ein sehr angenehmer Gedanke: Von heute an konnte er ein anderer sein, wenn er wollte.
    Aber wer? Wer bin ich? Wer werde ich?
    Als er ins Bett gegangen war, schwirrte ihm weiter der Kopf. Er schämte sich für sich selbst. Für das, was er getan und was er nicht getan hatte, für das, was er dachte und wer er war. Er versuchte sich zu zwingen, an die Vorstellungen in Nåten zu denken, und zu überlegen, ob er sie auch mit einem gebrochenen Finger bewältigen konnte, aber die

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