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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Bilder wurden verdrängt und durch andere ersetzt.
    Nach ein paar Stunden fiel er in einen unruhigen Schlaf, der nach kurzer Zeit von Schlägen, Hämmern, Klopfen gestört wurde. Nur von Klopfen. Schnell war er auf den Beinen und sah sich im Zimmer um. Jemand hatte geklopft. Jemand wollte herein. Ein letzter Lichtstreif hing noch am Himmel, und vor seinem Schlafzimmerfenster sah er die Silhouette eines Kopfs.
    Er atmete auf und öffnete das Fenster. Die Hände vor der Brust verschränkt, stand Anna-Greta vor ihm. Sie trug ein weißes Nachthemd.
    »Hallo?«
    »Darf ich kurz reinkommen?«
    Simon streckte instinktiv den Arm aus, um ihr über den Fenstersturz zu helfen, erkannte dann jedoch, wie dämlich er sich verhielt.
    »Ich geh aufmachen«, sagte er.
    Anna-Greta ging um die Hausecke, und Simon öffnete ihr die Tür, um sie hereinzulassen.

TREIBHOLZ
    There’s this switch that gets hit
    And it all stops making sense.
    BRIGHT EYES – HIT THE SWITCH
    Der Traum von Elin
    Gut zwei Stunden hatten Simon und Anna-Greta abwechselnd erzählt. Anders’ Knie knackten, als er aufstand und die Arme zur Decke streckte. Das Wetter war weder besser noch schlechter geworden. Kleine Regentropfen liebkosten die Fensterscheibe, und der Wind rauschte ohne größere Hast durch die Bäume. Ein Spaziergang schien möglich, und er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen.
    Simon ging mit dem Tablett in die Küche, und Anna-Greta fegte Krümel vom Tisch. Anders betrachtete ihre faltigen Hände und stellte sich die Schrotflinte in ihnen vor. »Was für eine Geschichte.«
    »Sicher«, sagte Anna-Greta. »Aber es ist nur eine Geschichte.«
    »Was meinst du damit?«
    »Was ich gesagt habe.« Anna-Greta richtete sich mit den Krümeln in der hohlen Hand auf. »Darüber, was gewesen ist, können wir nie etwas wissen, weil daraus Geschichten geworden sind. Auch für die Beteiligten.«
    »Dann … ist es nicht so gewesen?«
    Anna-Greta zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht mehr.«
    Anders folgte ihr in die Küche, wo Simon dabei war, das gute Porzellan vorsichtig in die Spülmaschine zu räumen. Anna-Greta rieb über dem Ausguss die Krümel von ihren Händen und holte das Spülmaschinenpulver heraus. Die beiden be wegten sich geübt und selbstverständlich in einer Art Alltagstanz umeinander, den die Jahre choreografiert hatten. Anders hatte zwei Bilder von ihnen vor Augen.
    Die Tochter des Schmugglerkönigs und der Zauberer. Jetzt stellen sie die Spülmaschine an.
    Ob ihre Geschichte nun der Wahrheit entsprach oder nicht, sie hatte ihn jedenfalls ganz schön durcheinandergebracht. Neue Verbindungen mussten in seinem Gehirn hergestellt, neue Bildfolgen zusammengestellt werden, und als die Synapsen Weg bereiteten für das Neue, empfand er dies als körperliche Müdigkeit.
    »Ich geh was spazieren«, sagte er.
    Anna-Greta machte eine Geste zum Kühlschrank hin. »Willst du dir nichts zu essen mitnehmen?«
    »Später. Danke für den Kaffee. Und die Geschichte.«
    Als Anders auf die Eingangstreppe hinaustrat, zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte den Gartenweg hinunter. Er kam an dem Pfad zu Simons Haus vorbei, blieb stehen und nahm einen tiefen Zug.
    Hier ist Papa mit dem Luftgewehr gerannt. Und ohne das Luftgewehr.
    Das Gewehr lag noch immer in einem Schrank im Haus, und als Kind hatte er es ein paarmal ausprobiert. Aber der Lauf war undicht und der Luftdruck deshalb so schwach, dass die Kugel meistens stecken blieb. Er hatte sich oft gefragt, warum sein Vater es trotzdem aufbewahrt hatte. Jetzt kannte er den Grund.
    Blätter raschelten oder fielen um ihn herum, und der Nieselregen benetzte seine Haare, als er zum Lebensmittelladen weiterging. Das Zubringerboot legte gerade vom Schiffsanleger ab, nachdem es eine kleine Gruppe von Schulkindern abgeliefert hatte. Ein gut siebenjähriges Mädchen mit einem Ranzen, der auf seinem Rücken hüpfte, lief auf der Straße auf ihn zu. Es war Maja –
    nicht Maja
    – die endlich gekommen war –
    das ist nicht Maja.
    – und er musste sich zusammenreißen, um nicht auf die Knie zu fallen und das Mädchen willkommen zu heißen, indem er es in seine Arme schloss.
    Denn es hätte Maja sein können. Jedes Kind im Alter von sieben oder acht Jahren hätte Maja sein können. Der Gedanke hatte ihn während des ersten halben Jahres nach ihrem Verschwinden zur Verzweiflung getrieben. All die Kinder, die Maja hätten sein können, es aber nicht waren. Tausende eifriger, fröhlicher oder

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