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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Simon rappelte sich endlich auf und sah Johan mit seinem Luftgewehr in den Händen an der Fliederlaube stehen. Er senkte das Gewehr und biss sich in die Unterlippe.
    Rolf stand auf. Auf seiner Stirn sah man einen dunklen Punkt, und etwas Blut quoll heraus. Seine Augen waren irre. Jetzt zögerte er nicht länger, brauchte er keine Bedenkzeit mehr. Er zog sein Messer heraus, klappte es auf und ging auf Johan zu.
    Simon war ihm dicht auf den Fersen, aber statt den Versuch zu machen, ihn zu stoppen, warf sich Simon in den Haselstrauch und fand die Schrotflinte. Noch ehe er sie richtig gepackt hatte, schrie er: »Hör auf, du Schwein!«, aber Rolf gehorchte ihm nicht.
    Johan hatte sein Gewehr fallen lassen, das nutzlos geworden war, nachdem er seinen einzigen Schuss abgefeuert hatte, und lief zum Haus hinauf. Rolf verfolgte ihn mit dem Messer in der Hand. Mit schmerzverzerrter Miene zog Simon die Flinte an die Schulter, während Rolf im gleichen Moment fünfzehn Meter entfernt hinter der Fliederhecke verschwand.
    Simon hatte noch nie mit einer Schrotflinte geschossen, wusste aber, dass man sie benutzte, weil die Schrotkörner streuten. Er richtete die Läufe auf die Fliederhecke und drückte ab.
    Im Verlauf einer knappen Sekunde passierte eine ganze Reihe von Dingen. Man hörte einen ohrenbetäubenden Knall, und der Rückstoß versetzte Simon einen derart heftigen Stoß, dass er rückwärts gegen den Haselstrauch fiel, aber schon vor seinem Fall öffnete sich in der Fliederhecke ein Loch, und Blattfetzen flogen auf wie ein Schwarm erschrockener Schmetterlinge. Die ersten Haselstrauchzweige zerschrammten gerade durchs Hemd Simons Rücken, als man Rolf aufbrüllen hörte.
    Simon umklammerte immer noch die Flinte an seiner Schulter, als sich die Zweige um ihn schlossen und er in flimmerndes Grün fiel. Rolf brüllte weiter. Kräftigere Äste im Inneren des Gestrüpps stoppten Simons Sturz, und er spürte, wie seine Haut blutig gekratzt wurde. Er umarmte das Holz des Flintengriffs, atmete, blieb liegen und dachte im Rhythmus seiner keuchenden Atemzüge:
    Getroffen. Getroffen. Getroffen.
    Erst Sekunden später, als er sich aus dem Gesträuch befreit hatte und sah, dass Anna-Greta mit den Händen vor dem Mund im Gras saß und Marita sich vor und zurück wiegte, drängte sich ihm der andere Gedanken auf:
    Wenn ich ihn nun getötet habe, wenn ich …
    Rolf brüllte nicht mehr. Simon schluckte, ohne Speichel zum Schlucken zu haben.
    Durstig. Ich bin so verdammt durstig.
    Ein Schweißtropfen lief ihm ins Auge und trübte seine Sicht. Er strich ihn fort und rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Anna-Greta neben ihm. Ihre Augen schiel ten, und sie schien Schmerzen zu haben. Sie zeigte auf seine Hand, die den Gewehrkolben hielt, und versuchte ihm etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
    Simon betrachtete die Flinte. Erst jetzt entdeckte er, dass es zwei Abzüge gab, einen für jeden Lauf. Er hatte nur den äußeren gedrückt. Ihm blieb noch eine Patrone. Anna-Greta nickte und griff sich ans Ohr. Sie ging auf die Fliederhecke zu, und Simon folgte ihr mit der Schrotflinte im Anschlag.
    Rolf war nicht tot, denn er bewegte sich. Sogar ziemlich viel. Er warf sich auf der Erde hin und her, als versuchte er, einen unsichtbaren Alb abzuschütteln. Sein Jackett war von der linken Schulter abwärts den halben Rücken hinunter blutig und zerfetzt. Nur ein Teil der Schrotkörner hatte den Mann getroffen. Hätte Simon nur eine halbe Sekunde früher abgedrückt, hätte Rolf jetzt wahrscheinlich mucksmäuschenstill gelegen.
    Johan kehrte zögernd zurück und näherte sich dem gefallenen Mann, als handelte es sich bei ihm um ein verletztes wildes Tier, das sich jeden Moment aufbäumen und erneut zum Angriff übergehen konnte. Dann schlug er einen weiten Bogen um den sich windenden Körper und fiel in Anna-Gretas Arme. Anna-Greta strich ihm übers Haar, und sie umarmten sich schweigend längere Zeit. Dann sagte Anna-Greta: »Nimm das Fahrrad, und hol Doktor Holmström. Und Göran.«
    Johan nickte und lief davon. Eine halbe Minute später klapperte er auf seinem Fahrrad den Weg hinunter. Rolf war zur Ruhe gekommen, lag da und öffnete und schloss eine Faust. Simon richtete immer noch die Schrotflinte auf ihn, sein Zeigefinger ruhte auf dem Abzug. Ihm war übel.
    Das bin nicht ich. Das kann niemals mir passieren.
    Zwanzig Minuten später waren Arzt und Polizist eingetroffen. Rolfs Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich, nur

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