Menschenhafen
beobachtete, wie er in einer Wasserdampfwolke vom Steg heraufkam.
Das Zittern, das von Spiritus ausging, durchströmte weiter seinen Körper, als begänne sein Blut zu sieden, und er sah weiterhin alles Wasser, das ihn umgab, mit überwältigender Deutlichkeit. Es ähnelte einem Fieber und ermattete ihn allmählich. Es war zu viel und nicht für den Menschen geeignet.
Als er ins Haus gekommen und Spiritus in seine Schachtel zurückgelegt hatte, versuchte er, seinen letzten Gedanken weiterzuverfolgen.
Nicht für den Menschen geeignet .
So war es. Er besaß etwas, das für den Menschen nicht geeignet war. Vielleicht hatte er deshalb Spiritus geheim gehalten: weil es nicht vorgesehen war, dass er ihn besaß. Er gehörte einem anderen. Etwas anderem.
Schließlich zog er sich an und ging hinaus. Da Spiritus nun wieder in seiner Schachtel in Simons Tasche lag, war die Wahrnehmung der Allgegenwart des Wassers wieder in ihre alte Position zurückgeglitten: Sie war ein Bewusstsein und eine Ahnung, nicht mehr. Er setzte sich auf die Bank vor dem Haus und versuchte, den schönen Herbsttag ohne unnatürlich geschärfte Sinne in sich aufzunehmen.
Es wollte ihm nicht recht gelingen. Zwei Eichelhäher verlustierten sich zwischen den leuchtend roten Beeren der Eberesche, und er sah nur Vögel. Das morgendliche Licht fiel schräg auf die Blätter des Ahornbaums mit ihren tausend Farbschattierungen zwischen Gelb und Rot, aber er sah nur einen Baum. Die Wolken am Himmel waren Wolken und der Himmel hinter ihnen eine endlose Leere.
Jedes Ding war an seinem Platz, aber ohne inneren Zusammenhang. Er sah alles, was seine Augen wahrnahmen, doch das vollständige Bild entging ihm. Von einer zitternden Seismografennadel war er zu einem steifen Stock geworden. Er schüttelte den Kopf und versetzte der Tasche einen Klaps.
Du bist gefährlich, mein Lieber. Ich glaube, man könnte süchtig werden.
Von seiner seherischen Gabe befreit, ließ er den Blick über das schweifen, was sein kleines Reich auf Erden war: der Rasen, der Gemüsegarten, der Bootssteg, das steinige Ufer, das Schilf in der Bucht. Alles war still und nichtssagend. Im Schilf lag allerdings etwas. Wegen des Glitzerns auf der Wasseroberfläche kniff er die Augen zusammen und richtete sich auf, um besser sehen zu können.
Es sah aus wie ein Stock. Möglicherweise war in der Nacht ein Bootssteg auseinandergebrochen, und seine Einzelteile waren über die Schären verteilt worden. Dann gab es wahrscheinlich noch mehr Treibholz in der Bucht. Ächzend stand er auf und ging am Ufer entlang. Als er näher kam, sah er, dass es doch kein Stock war, es sei denn, jemand wäre auf die Idee gekommen, einem Stock Jacke und Rock anzuziehen.
Das ist ein Mensch. Eine Frau.
Seine Schritte veränderten sich. Als er ins Wasser hinauswatete, war sein Gang zögerlich, ehrfürchtig. Er näherte sich einem toten Menschen und glaubte zudem, die Kleider wiederzuerkennen.
Sigrid. Holgers Frau .
Das Wasser reichte schon fast bis zum oberen Ende des Stiefelschafts, als noch ein Meter zwischen ihm und der Frau lag, die nur Sigrid sein konnte. Sie trieb zwar auf dem Bauch, trotzdem war ein Irrtum ausgeschlossen. Die graue Strickjacke und der dicke, braune Rock waren die Kleidungsstücke, in denen man sie im Dorf und auf See werktags wie feiertags gesehen hatte.
Sigrid. Er blieb stehen. Die halblangen, grauen Haare umwehten ihren Schädel, als schwebte über ihrem Hinterkopf eine große Qualle. Sie lag ein paar Meter im Schilf und hatte auf ihrem Weg zum Ufer eine ganze Reihe von Halmen unter sich umgeknickt oder umgebogen. Simon wollte nicht sehen, wie ihr Gesicht aussah. Mit Spiritus’ Hilfe wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, sie umzudrehen oder sogar ans Ufer zu heben, aber das war sinnlos. Sie war mit Sicherheit ertrunken. Während er sich auf sie zubewegte, hatte sie in dem ruhigen Wasser vollkommen still gelegen.
Wie lange hat sie hier schon gelegen?
Es musste im Laufe der Nacht passiert sein. Fast ein Jahr war sie verschwunden gewesen, und nun hatten die Bewegungen des Meeres sie heraufgeholt und an Land geschleift.
Ein Jahr?
Einer von Sigrids Armen lag ausgestreckt, und er betrachtete eine weiße Hand. Simon studierte die Finger der Hand und zuckte zusammen, als er zu sehen glaubte, dass sie sich bewegten. Aber es war nur eine schwache Regung im Wasser, eine Veränderung der Lichtverhältnisse gewesen. Trotzdem wich er einen Schritt zurück und strich sich übers Gesicht.
Müsste
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