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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sie nicht mittlerweile … ein Skelett sein?
    Er wusste zwar nicht genau, wie es um Dinge dieser Art stand, aber er glaubte nicht, dass ein Mensch, der fast ein Jahr im Wasser gelegen hatte, noch Finger haben würde. In der Tiefe gab es viele hungrige Mäuler.
    Erst jetzt sah er vor sich, wie er hier fast bis zu den Knien im Wasser stand und eine Leiche studierte. Er hatte das Gefühl, in einer Luftblase zu sein, einer unangenehmen Verzauberung, die schwer zu brechen war. Er hätte hier noch lange so stehen bleiben können.
    Göran .
    Das war es, was er tun musste: ans Ufer zurückwaten und Göran anrufen. Genau. Langsam entfernte er sich rückwärts gehend von dem treibenden Körper. Er wollte der Leiche nicht den Rücken zukehren. Als er wieder am Ufer stand, wagte er es endlich, sich umzudrehen, und schlurfte, so schnell er konnte, zum Haus. Zweimal warf er einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern.
    Dass sie mir nicht folgt.
    Göran war glücklicherweise zu Hause und wusste, was zu tun war. Er rief die richtigen Behörden an, und eine gute Stunde später hatte der Seenotrettungsdienst Sigrid geborgen und nach Nåten überführt. Ein junger Polizist stellte Simon ein paar Fragen zu den Details seines Funds. Als sie abgehakt waren, klappte der Beamte seinen Block zu und fragte: »Es gibt einen Ehemann, nicht wahr?«
    »Stimmt«, antwortete Simon und warf einen Blick auf Göran, der mit den Händen in den Hosentaschen neben ihnen stand und zu Boden sah.
    »Wo wohnt er?«
    Simon zeigte Richtung Kattudden und wollte schon zu einer Wegbeschreibung ansetzen, als Göran sagte: »Das kann ich übernehmen. Ich werd es ihm sagen.«
    »Wäre das wirklich so gut?«
    Göran lächelte. »Es ist weniger schlecht. Ich denke, du würdest es ein bisschen schwierig finden, dich mit Holger … zu unterhalten.«
    Der Polizist sah auf die Uhr. Er hatte offensichtlich Besseres zu tun, als sich mit Menschen zu unterhalten, die schwierige Gesprächspartner waren.
    »Einverstanden«, sagte er. »Aber kündige ihm schon einmal an, dass wir ihn zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht noch befragen werden. Sobald sie untersucht worden ist.«
    »Er wird nicht abhauen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine dasselbe wie du, nehme ich an.«
    Sie sahen sich in die Augen und nickten anschließend in kollegialem Einvernehmen.
    Der Polizist zeigte mit dem Daumen zur Bucht hinunter und meinte: »Sie kann unmöglich ein Jahr im Wasser gelegen haben, oder?«
    »Nein«, antwortete Göran. »Wohl kaum.«
    Als der junge Mann zum Polizeiboot zurückgekehrt war, blieben Göran und Simon auf dem Bootssteg zurück und sahen auf das fast spiegelglatte Meer hinaus. Abgesehen von der Furche, die das Polizeiboot zum Festland pflügte, war das Wasser ein gigantischer Spiegel, der den Himmel reflektierte und die eigenen Geheimnisse verbarg.
    »Irgendetwas geht hier vor«, sagte Simon.
    »Was geht hier vor?«
    »Etwas mit dem Meer. Irgendetwas geschieht mit ihm.«
    Simon nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass Göran ihn ansah, schaute aber weiter auf die kalte, leuchtend blaue Fläche hinaus.
    »Inwiefern?«, fragte Göran.
    Simon konnte sein Wissen nicht in Worte fassen. Am ehesten traf es noch sein Gefühl, dass das Meer zerbrochen war, aber das konnte er schlecht sagen, und so erklärte er: »Es verändert sich. Es wird … schlechter.«
    Eine sehr kleine Begebenheit
    Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen und die Geschichte hätte einen völlig anderen Verlauf genommen, wenn nicht ein Blatt herabgefallen wäre. Das fragliche Blatt hing an dem großen Ahornbaum, der etwa zwanzig Meter landeinwärts von Simons Bootssteg stand. Am Morgen war Simons Blick schon einmal auf genau dieses Blatt gefallen, als er von der durch Spiritus entstandenen Sinnesschärfe befreit vor seinem Haus gesessen hatte.
    Da es Mitte Oktober war, hatte der Ahorn während des Sturms viele Blätter verloren, und die restlichen hingen nur noch lose an ihren Zweigen und changierten in sterbenden Farbtönen. Allem Anschein nach würden die meisten von ihnen allerdings an diesem Tag hängen bleiben dürfen. Es war ein windstiller Nachmittag, und es fielen nur einzelne Blätter in großen Zeitabständen, um sich zu den trockenen Heerscharen auf dem Erdboden zu gesellen.
    Wer weiß eigentlich, wie Beschlüsse gefasst werden, sich Gefühle verändern und Ideen entstehen? Man kann über Inspiration und Geistesblitze aus heiterem Himmel sprechen, aber vielleicht ist alles so

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