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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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länger grau, sondern hellschwarz, wenn es einen solchen Farbton gab. Sie glänzte allerdings nicht, nicht einmal, nachdem er der Larve Speichel gegeben hatte. Sie sah zwar nicht mehr aus, als läge sie im Sterben, wirkte aber auch nicht gesund.
    Seit zehn Jahren war Spiritus nun in seinem Besitz. Er hatte ihm jeden Morgen Speichel gegeben und die Streichholzschachtel ausgetauscht, sobald die alte abgenutzt war. Dennoch hatte er nie zuvor getan, was er nun tat: Er drehte die Schachtel um und kippte das Insekt in seine hohle Hand.
    Im Laufe der Nacht war etwas passiert. Er hatte Spiritus all die Jahre mit einer Mischung aus Ekel und Respekt betrachtet, aber seine Gefühle hatten sich verändert, als er ihn so kläglich, sterbend gesehen hatte. Mitleid war nicht das richtige Wort, es ging hier eher um eine Art Schicksalsgemeinschaft. Sie waren den gleichen Bedingungen unterworfen.
    Die Haut der Larve berührte seine, und er biss sich leicht in die Zunge. Es war immer ein wenig abstoßend, ein Insekt zu halten. Die schwache Bewegung, das kleine Leben, das unabhängig von seinem eigenen verlief.
    In diesem Fall jedoch nicht.
    Es passierte nichts, und Simon entspannte sich. Die Larve lag in seiner flachen Hand und war warm. Da er dies wahrnehmen konnte, war sie wärmer als er. Nur ein paar Grad, aber doch so viel, dass man sie als einen warmen Punkt in der Hand spürte.
    Behutsam legte er die Finger um das Insekt und schloss die Augen. Ruhig, ganz ruhig bewegte sich die Larve in seiner locker geballten Faust, und das Kitzeln in der Haut lief den Arm hinauf, fuhr durchs Herz und weiter bis in den Kopf hinauf, wo es wie schwache Elektrizität umherschoss und die Kopfhaut kribbeln ließ.
    Simon blickte aus dem Fenster. Morgendlicher Tau glänzte im Gras, und er meinte jeden einzelnen Tropfen zu sehen, konnte jeden Tropfen mit seinem Denken berühren. In den Baumstämmen sah er die verborgenen Gefäße, Wasser, das von der Kapillarität bis in die dünnen Adern der Blätter gesaugt wurde. Wie in Trance ging er zur Haustür, trat auf den Absatz der Eingangstreppe hinaus und hielt die Hand um die Larve geschlossen.
    Es war ein Schock.
    Alles Wasser … alles Wasser …
    Er sah alles Wasser. Die Feuchtigkeit in der Erde und wie sie beschaffen war. Das Regenwasser in der Tonne war wie ein lebendiger Körper, der sich um tote Insekten und alte Blätter schloss. Durch die Rasenfläche hindurch sah er die unterirdischen Adern, die durch den Felsgrund liefen. Und er sah, dass alles, wirklich alles, was lebte und grün oder gelb oder rot war … dass dies alles fast nur aus Wasser bestand.
    Er ging zum Bootssteg hinunter und sah das Meer.
    Zerbrochen.
    Es war ein wortloses Wissen, kein formulierter Gedanke: Das Meer war zerbrochen. Es war kaputtgegangen. Er trat auf den Steg hinaus, und er ging über Wasser. Zerbrochenes Wasser.
    Mit einer Willensanstrengung gelang es ihm, eigene Gedanken über die allumfassende Erkenntnis zu legen, die sich seiner bemächtigt hatte. Das alte Baumwollseil am Heck seines Boots war abgerissen worden, und das Boot lag quer zum Steg.
    Früher hatte er Kontakt mit dem Wasser benötigt, um Dinge geschehen zu lassen. Nun bat er nur um eine Welle, die das Boot so antippte, dass es zum Steg trieb. Die Welle kam, und das Boot drehte sich um die eigene Achse, bis das Heck gegen einen Poller schlug.
    Er ging in die Hocke, kam aber nicht an das Seil heran, das hinter dem Boot trieb, weshalb er das Wasser bat, es ihm zuzuwerfen. Ein Stoß vom Grund durchstieß die Oberfläche, und das Seil wurde in einer Wasserkaskade auf den Steg geschleudert. Simon bekam eine tüchtige Dusche ab, und das Seilende glitt, ehe er danach greifen konnte, in die See zurück.
    Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, betrachtete das Seil, das zum Grund sank, und sah, dass seine Stofffasern Wasser aufgesogen hatten, sodass er stattdessen das Wasser in dem Seil bitten konnte, zu ihm zu kommen. Wie eine Schlange aus einem Korb hob es sich gehorsam von der Wasserfläche und glitt in seine ausgestreckte Hand. Er machte mit dem wenigen, was davon übrig geblieben war, einen einfachen Knoten, und das Boot war wieder vertäut.
    Er fror in seinem durchnässten Bademantel und kehrte zum Haus zurück, während er das Wasser im Stoff bat, etwas wärmer zu werden, ein Wunsch, dem das Wasser nachkam. Er wollte es nicht bitten, ihn zu verlassen, weil es vermutlich einigermaßen seltsam ausgesehen hätte, falls ihn zufällig jemand dabei

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