Menschenjagd
Bradleys Hand auf. »Wenn du eine Waffe hast, lass sie fallen.«
»Ich habe keine.«
»Ich glaub dir den Sch…« Er verstummte, und seine Augen weiteten sich. »He! Du bist doch der Typ vom Free-Vee. Du hast den YMCA in der Huntington Avenue in die Luft gejagt.« Sein düsteres Gesicht leuchtete in einem unfreiwilligen Lächeln auf. »Es heißt, du hättest fünf Cops gebraten. Also waren’s höchstwahrscheinlich fünfzehn.«
»Er is aus dem Gully gekommen«, sagte Stacey mit Nachdruck. »Ich hab gleich gewusst, dass es nich der Teufel ist. Ich hab gewusst, dass es so’n weißes Schwein ist. Wirst du ihn abstechen, Bradley?«
»Sei still und lass die Männer reden.« Bradley schlüpfte in den Verschlag und hockte sich verschämt Richards gegenüber auf eine gesplitterte Apfelsinenkiste. Er betrachtete das Messer in seiner Hand, als wäre er verwundert, es immer noch dort zu sehen, und klappte es wieder zu.
»Du bist heißer als die Sonne, Mann«, sagte er schließlich.
»Das ist wahr.«
»Wo willst du jetzt hin?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss jedenfalls aus Boston verschwinden.«
Bradley dachte einen Augenblick schweigend nach. »Am besten kommst du erst einmal mit zu uns. Wir müssen reden, und hier geht das nicht. Zu öffentlich.«
»In Ordnung«, sagte Richards müde. »Mir ist es egal.«
»Wir gehen hintenrum. Die Schweine drehen heute Nacht ihre Runden. Jetzt weiß ich auch, warum.«
Als Bradley hinausging, trat Stacey Richards heftig gegen das Schienbein. Richards starrte ihn verständnislos an, dann erinnerte er sich. Er steckte Stacey drei Neue Dollar zu, und der Junge ließ sie verschwinden.
… Minus 064 Countdown läuft …
Die Frau war sehr alt; Richards hatte den Eindruck, noch nie einen so alten Menschen gesehen zu haben. Sie trug ein bunt gemustertes Baumwollkleid mit einem großen Riss unter einem Arm. Eine uralte, faltige Brust schwang hin und her gegen den Riss, während sie das Essen zubereitete, das Richards Neue Dollar gekauft hatten. Ihre nikotingelben Finger schnitten und pulten und schälten. Ihre vom jahrelangen Stehen in die Breite gegangenen Füße steckten in abgelatschten rosa Frotteepantoffeln. Ihr Haar sah aus, als hätte sie es mit einem Brenneisen in den zittrigen Händen selbst in Wellen gelegt. Es war mit einem zerrissenen Haarnetz, das schräg auf ihrem Hinterkopf saß, zu einer Art Pyramide zurückgeschoben. Ihr Gesicht war ein altes Flussdelta, nicht mehr braun oder schwarz, sondern gräulich, überzogen von einer Galaxie von Falten und Fältchen und Tränensäcken. Ihr zahnloser Mund bearbeitete einen Zigarettenstummel, aus dem sie blaue Rauchwolken ausstieß, die wie kleine Bällchen über und hinter ihr in der Küche hingen. Sie schlurfte ständig hin und her und beschrieb so ein Dreieck aus Rauchwölkchen zwischen Tisch, Herd und Spülbecken. Ihre langen Strümpfe hatte sie bis zu den Knien heruntergerollt. Zwischen dem ausgefransten Saum ihres Baumwollkleides und den Strümpfen wölbten sich Krampfadern.
Die Wohnung wurde vom Geist längst dahingeschiedenen Kohls heimgesucht.
Im Schlafzimmer am anderen Ende schrie Cassie, rief etwas, hustete und war still. Bradley hatte ihm in einem Anflug von zorniger Scham erklärt, dass sich Richards nicht darum kümmern solle. Sie hatte Lungenkrebs. Beide Lungenflügel waren inzwischen befallen, und die Krankheit breitete sich nach oben in ihre Kehle und nach unten in ihren Bauch aus. Sie war fünf Jahre alt.
Stacey war wieder irgendwohin nach draußen verschwunden.
Während Richards sich mit Bradley unterhielt, stieg in der Küche langsam der aufreizende Duft von schmorendem Fleisch, Gemüse und Tomatensauce auf, drängte den Kohl in die Ecken zurück und machte Richards bewusst, wie hungrig er war.
»Ich könnte dich ausliefern, Mann. Ich könnte dich umbringen und dir all das Geld abnehmen. Die Leiche ausliefern. Weitere tausend dafür einkassieren und mir’ne schöne Zeit damit machen.«
»Ich glaube nicht, dass du das tun könntest«, sagte Richards. »Ich weiß, dass ich es nicht könnte.«
»Warum machst du das überhaupt?«, fragte Bradley gereizt. »Warum spielst du den Trottel für sie? Bist du so gierig?«
»Meine kleine Tochter heißt Cathy«, sagte Richards. »Sie ist noch jünger als Cassie. Lungenentzündung. Auch sie schreit die ganze Zeit.«
Bradley sagte nichts.
»Ihr könnte geholfen werden. Es ist nicht so … wie bei ihr da drin. Lungenentzündung ist nicht schlimmer als eine
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