Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
Vom Netzwerk:
spielten noch 1990 fast drei Viertel der deutschen Kinder zwischen sechs und 13 Jahren täglich im Freien, 2003 waren es weniger als die Hälfte. Und dann wird über die Ungeschicklichkeit der heutigen Kinder hergezogen oder ihr Übergewicht beklagt!
    Noch deutlicher wird der Trend, wenn man weiter zurück in die Geschichte schaut. Von Kriegs – und den Umbruchzeiten der industriellen Revolution einmal abgesehen war der normale Lebensraum der Kinder die Welt dort draußen. Nicht rauszukönnen wurde als Strafe empfunden.
    Heute stellt sich immer öfter die Frage nach dem Wohin. Lässt man den Zeitraffer laufen, so wurden den Kindern zuerst die Wälder genommen, danach die Wiesen, die Hinterhöfe, die Brachflächen, dann die Straßen, Gassen und Gärten. Und schließlich noch die Zeit selbst: Nach Erhebungen des Soziologen John Sandberg hat sich die Freizeit US-amerikanischer Kinder zwischen 1981 und 1997 um ein Viertel verringert. Und die gelten gegenüber den Kindern in Shanghai noch als wilde Kerle. Michael Ende hat in Momo kein Märchen erzählt: Da gibt es jemand, der den Kindern die Zeit stiehlt!
    Was ist aus den Kinderbanden geworden?
    1964 wurden in Deutschland noch 1.357.304 Kinder geboren (eines davon war meine Frau Dorothea, hallo, schön dass es dich gibt!). Heute sind es weniger als die Hälfte. Und jedes Jahr nimmt die Zahl um weitere 17.000 ab. Damit verschieben sich auch Gewichte. Einem Kind stehen heute rein rechnerisch dreimal mehr Erwachsene gegenüber als noch in den 1970er-Jahren.
    Kein Wunder, dass Kinder heute deutlich seltener in »informellen Gelegenheitsgruppen« anzutreffen sind – also sich in der Freizeit ungeplant zum Spielen treffen. Es fehlt den Gelegenheitsgruppen aber nicht nur an potenziellen Mitgliedern, sondern
auch an Gelegenheiten. Viele der verbliebenen Kandidaten sitzen nämlich gerade im Auto, auf dem Weg zum nächsten Termin.
    Tatsächlich ist die straffere Führung der Kindheit durch wohlmeinende Erwachsene ein wichtiger Grund für das Aussterben der Kinderbanden. Die Kindheit wird neuerdings als »zu wertvoll angesehen, als dass sie den Kindern überlassen werden kann.« Große Chancen, einen Purzelbaum zu erlernen, bestehen damit allenfalls noch im Ballettunterricht – oder aber in der Physiotherapie.
    Natürlich ist auch Angst im Spiel. Die wenigsten Erwachsenen würden heute ihren Kindern die Abenteuer erlauben, an denen sie sich selbst als Kinder so sehr erfreut haben (und von denen sie trotzdem ihren Kindern mit glänzenden Augen erzählen). Ja, man wünscht sich, dass die Kinder geschickt und sportlich sind – aber müssen sie dazu ausgerechnet auf Bäume klettern? Oder gar das tun, was wir früher gemacht haben?
    Also drinnen bleiben. Und warum eigentlich nicht? Gameboy, Playstation, Xbox und Internet bieten alles, was ein kindliches (zumal ein männliches) Gehirn zum Jubeln bringt: Action, die Illusion von Macht und Wirksamkeit, Belohnungen durch kurzfristige Gewinne, Fantasiewelten, Rückzugsräume, ja, sogar virtuelle »Freunde« und Kameradschaft – das Abenteuer ist einfach umgezogen. Für immer mehr Kinder und Jugendliche sind die brenzligen Gefühle des Unerlaubten, Unerwarteten und Unberechenbaren heute nur noch im Internet erreichbar. Und anders, als wir gerne glauben wollen, ist die virtuelle Spielwelt hinter dem Bildschirm keinesfalls langweiliger als die echte Welt draußen vor der heruntergelassenen Jalousie – wer das behauptet, hat entweder keinen männlichen Sprössling zu Hause oder keinen Computer. Unsere Kinder und Jugendlichen sind wirklich auf den Stühlen festgeklebt.
    Schichtenbildung
    Mit dem Schwinden der Bolzplatz-Banden haben Kinder aber mehr verloren als nur die von Erwachsenen weitgehend unbeaufsichtigten Erfahrungsräume. Sie haben auch ihre älteren (und jüngeren) Mitstreiter verloren. Kinder lernen und spielen heute fast nur noch mit mehr oder weniger gleichaltrigen Kindern.
    Das ist ein Novum in der Geschichte. Bis zu seiner Sesshaftigkeit lebte der Mensch in relativ kleinen, hochmobilen Gruppen. Allzu wählerisch konnten Kinder da nicht sein, wenn sie sich zum Spielen zusammentaten. Für Evolutionsbiologen ist die gemischtaltrige Kindergruppe deshalb ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Stammesgeschichte. Nach einer sehr eng auf erwachsene Bindungspersonen bezogenen frühen Kindheit war die gemischte Kindergruppe der soziale Erfahrungsraum der späteren Kindheit. Auch heute spielen die Kinder in den traditionellen

Weitere Kostenlose Bücher