Menschenkinder
steht es in jedem Lehrbuch der Kognitionsforschung. Da wäre zu erwarten, dass ein Betrieb, dessen Geschäftszweck das Lernen ist, der Müdigkeit den Kampf ansagt. Auch die Lehrer sehen Handlungsbedarf, sie klagen schon lange darüber, dass vor allem die älteren Schüler morgens müde und damit wenig aufnahmefähig sind.
Heute wissen wir, dass die Müdigkeit bei älteren Schülern entwicklungsbedingte Gründe hat – mit dem Beginn der Pubertät verschiebt sich der Biorhythmus der Kinder. Unabhängig davon, wann diese abends ins Bett gehen, sind sie morgens abgeschlagen und können sich schlecht konzentrieren. Studien haben gezeigt, dass bereits eine Verschiebung des Unterrichts um eine halbe Stunde nach hinten die Schüler lernfähiger und engagierter macht. Sie schwänzen dann auch seltener die Schule.
Was läge also näher, als die Schule an die biologischen Bedürfnisse der Lernenden anzupassen und morgens später mit dem Unterricht zu beginnen? Hören wir uns einmal an, was der inzwischen abgewählten Kultusministerin von Baden-Württemberg dazu einfällt, einem Bundesland, das im europäischen Vergleich mit den frühesten Schulbeginn hat: »Dem Kultusministerium ist bekannt, dass wissenschaftliche Studien aus der Biorhythmus-und Schlafforschung bei Jugendlichen eine zeitliche Verschiebung der Schlafphase nach hinten feststellen, und zwar unabhängig von der Abendgestaltung bzw. dem Zeitpunkt des Zubettgehens.« Und weiter: »Trotz dieser Forschungsergebnisse liegen dem Kultusministerium bislang keine Rückmeldungen aus der schulischen Praxis vor, die eine landesweit einheitliche und damit verbindliche Festlegung des Unterrichtsbeginns auf einen späteren Zeitpunkt als notwendig erscheinen lassen.«
Wie lange können sich Schulen eine solche Arroganz noch leisten? Ja, wie lange können wir uns als Gesellschaft noch leisten, bei der Bildung unserer Kinder deren Entwicklung außer Acht zu lassen?
Diese Frage gilt ebenso für andere Forderungen, wie etwa die, dass Schüler mehr Bewegung brauchen – auch das ist von der Lernforschung gut belegt. Dennoch sieht die Realität an den Schulen heute nicht anders aus als vor hundert Jahren, als noch ein großer Teil der Kinder mehr als genug Bewegung im Alltag hatte. Bewegte Schule, Bewegungspausen im Unterricht – wo ist das je über das Stadium eines Modellprojekts hinausgekommen?
Und wie sieht es mit dem schulischen »Stoff« aus? Wo wird da der Bezug auf die kindliche Entwicklung ernst genommen? Nach den Ergebnissen der Bildungsforschung sind in der 7. bis 10. Klasse nur kümmerliche Lernzuwächse beim herkömmlichen Lernen zu verzeichnen, gerade die besseren Schüler stagnieren. 40% der Schüler machen zwischen dem 9. und dem 10. Schuljahr überhaupt keinen Fortschritt mehr im Fach Mathematik – quer durch alle Schultypen.
Wir sollten diesen Stillstand beim passiven Lernen als Signal erkennen! Wäre es nicht an der Zeit, den Kindern, die nun eben keine Kinder mehr, sondern Jugendliche sind, mehr Raum zu geben für eigene Aktivitäten – für Aktivitäten, die sie selbst als sinnvoll begreifen können? Sie mit eigenen Projekten die Welt bewegen zu lassen? Wäre es nicht eine Chance, gerade in dieser Altersstufe andere Lernformen – soziales Lernen, praktisches Lernen, Lernen, bei dem sich die Schüler als nützlich und kreativ erleben – mit zu integrieren? Warum sollen Schüler nicht auch einmal im Kindergarten nebenan mitarbeiten? Was gäbe es da nicht alles zu lernen und zu erfahren: die Zuwendung zu kleinen Kindern, Empathie, die Anerkennung als großer Bruder und Gefährte, gemeinsames Kochen und Spielen und Gestalten des Alltags – alles Erfahrungen, die heute für viele Kinder auf anderen Wegen gar nicht mehr erlebbar sind.
Denn im Grunde sitzen Jugendliche auf der Schulbank ja auch in einer Art Entwicklungsfalle. Sie sind begeisterungsfähig, ihr Belohnungssystem sucht wie wild nach Erfolgserlebnissen — und sie bekommen doch keine neue, aus der »Hörigkeit« des Kindes hinausführende Rolle geboten.
Die Zukunftsfrage
Alle sind sich einig. Die Schule soll Kindern helfen, sich zu entfalten. Allen Kindern. Aber sie kann es nicht. Und sie kann es selbst dann nicht mehr, wenn man sie an ihrem eigenen Anspruch misst. Die gesetzten Bildungsziele lassen sich ja längst nur noch mit Hilfe einer milliardenschweren, immer größer werdenden privaten Nachhilfe-Industrie erreichen. Das hat sich mit der Einführung von G8 noch verschärft. Noch
Weitere Kostenlose Bücher