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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Wehen eingeleitet wurden, im Krankenhaus dagegen 53%. Und: Im Geburtshaus wurden dreimal weniger Dammschnitte durchgeführt – und das, ohne dass die Zahl der Dammrisse gegenüber der Klinik erhöht gewesen wäre. Das Kaiserschnittrisiko? Im Geburtshaus war es viermal kleiner. Und von den geborenen Babys wurden in der Geburtsklinik über doppelt so viele wegen Komplikationen in die Kinderabteilung überwiesen als im Geburtshaus.
    Diese Zahlen zeigen, dass die Geburtshilfe auf den Prüfstand gehört. Sie zeigen auch, wie wenig Frauen wirklich von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen oder Gebrauch machen können – und das bei einem so zentralen Lebensereignis, wie es die Geburt eines Menschen auch heute noch ist.
    Natürlich hat sich auch bei den Gebärenden einiges verändert: Sie sind im Schnitt älter, bekommen insgesamt weniger, dafür im Durchschnitt schwerere Kinder, sie selbst sind ebenfalls häufiger übergewichtig und sie sind möglicherweise auch körperlich weniger belastbar, als Frauen das früher waren. Oder sie schenken sich und ihrem Körper weniger Vertrauen. Und manche Frau geht tatsächlich lieber in die Klinik, um sich entbinden zu lassen, anstatt selbst zu gebären. Der Anteil der Frauen, die auf eigenen Wunsch per Kaiserschnitt gebären wollen, nimmt jedenfalls zu. All das spielt in den geschilderten Trend hinein – und kann ihn doch nicht ausreichend erklären.
    Auch das System selbst ist zunehmend von Teufelskreisen geprägt. Nehmen wir nur einmal die Angst vor Schadenersatzprozessen. Juristisch ist der entbindende Arzt mit einem Kaiserschnitt
immer auf der sicheren Seite. Kommt es dagegen bei einer Vaginalgeburt zu Komplikationen, so muss sich der Arzt möglicherweise vor Gericht rechtfertigen. 12 Zudem entsteht durch einen Kaiserschnitt oft ein medizinischer Automatismus: Wer bereits einen Kaiserschnitt hinter sich hat, wird bei der nächsten Geburt in aller Regel wieder per Kaiserschnitt entbunden (auch wenn das rein medizinisch ein alter Hut ist). Auch scheinen der Geburtshilfe nach und nach die Fertigkeiten verloren zu gehen. Wo immer mehr schwierige Geburten auf dem OP-Tisch enden, erlernen die nachrückenden Ärzte eben vor allem eines: wie man eine Geburt operativ beendet. Diese Ausdünnung praktischen Wissens trifft gerade die Geburtshilfe an einem neuralgischen Punkt. »Man muss in der Geburtshilfe viel wissen, um wenig zu tun«, erläuterte einmal der deutsche Frauenarzt Professor Dr. Dr. Willibald Pschyrembel (1901 – 1987). Das Dilemma scheint heute zu sein: Jeder hat den Pschyrembel im Regal stehen (Professor Pschyrembel war auch der Begründer des gleichnamigen Medizin-Lexikons), aber keiner folgt mehr seinem Rat.
    Dabei gibt es gute Hinweise darauf, dass Professor Pschyrembel bis heute Recht hat. Nehmen wir etwa die künstliche Auslösung der Wehen. Das kann im Notfall sehr hilfreich und notwendig sein, etwa wenn ein Kind übertragen ist. In vielen anderen Fällen aber entstehen durch eine solche »Einleitung« Nachteile – nämlich dann, wenn der Körper der Mutter zu einer Geburt eigentlich noch nicht bereit ist. Studien raten jedenfalls zu Vorsicht. Gerade bei erstgebärenden Müttern muss die Geburt nach einer Einleitung nämlich deutlich häufiger durch einen Kaiserschnitt beendet werden. Das erklärt möglicherweise auch einen anderen, zunächst einmal rätselhaften Zusammenhang: Frauen, deren Muttermund bei Aufnahme in die Klinik noch wenig geöffnet ist, werden später häufiger per Kaiserschnitt entbunden – obwohl gerade diese Frauen meist jung und gesund sind. Des Rätsels Lösung: Weil starke Wehen eine Weile auf sich warten lassen, wird dem zögerlichen Muttermund in vielen Fällen per Wehenmittel nachgeholfen. Insgesamt wird heute etwa fünfmal häufiger zu
Wehenmitteln gegriffen als noch vor 20 Jahren, und das oft schon in einem Stadium, in dem die Geburt eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hat. Offenbar sträubt sich die Natur bei der Geburt gegen Fast-forward.
    Das eigentliche Rätsel
    Dies führt uns zu dem eigentlichen Rätsel, nämlich der Geburt selbst. Sie scheint von der Natur als ein Hochseilakt zwischen Extremen angelegt zu sein. Um zu gebären braucht es äußerste Kraft und Energie – aber auch Entspannung.
    Diese »konzentrierte Entspannung« beruht auf einem feinen Gefüge hormoneller Wirkungen, und sie stellt sich nur unter bestimmten Bedingungen ein. Eine gelungene Geburt kann im Grunde so wenig »gemacht« werden wie ein
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