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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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werden: Kooperation und Konkurrenz. Beides sind effektive Methoden, um die knappen Ressourcen der Umwelt zu nutzen. Welches ist die »angestammte« Lebensstrategie des Menschen?
    Darüber wurde und wird heftig gestritten. Die einen vermuten mit Blick auf die Jäger – und Sammlergemeinschaften, in denen wir ja die allermeiste Zeit unserer Geschichte gelebt haben, eine Art Ur-Kommunismus – da waren alle Stammesmitglieder gleich und haben perfekt für ein gemeinsames Ziel kooperiert (wie etwa die Ameisen das tun). Die anderen unterstellen ein »Jeder gegen jeden«, bei dem nur die Stärksten ihre Interessen geltend machen konnten und sich an die Spitze stellten (wie es etwa für die Schimpansen gilt).
    Die evolutionäre Verhaltensforschung schlägt sich auf keine der beiden Seiten. Die Jäger – und Sammlergemeinschaft war zum einen eine Leistungsgesellschaft. Ein besonders guter Jäger oder eine besonders gute Sammlerin zu sein, war immer ein Plus, und das wurde auch belohnt – durch Ansehen, durch Status, durch mehr Freiheit bei der Partnerwahl. Kein Wunder, dass es in unserem Gehirn vor »eigennützigen« Optionen nur so wimmelt. Da sind Stolz, Neid und Eifersucht, da ist ein empfindlicher Sinn für Ehre und Status, und da ist diese innere Zufriedenheit, wenn wir eigene Entscheidungen treffen können. Ja, wir Menschen sind auf eine vorteilhafte individuelle Position bedacht, eindeutig!
    Ganz sicher herrschte aber auch kein »Jeder gegen jeden«. In einer Umwelt, in der es keine Lagerhallen und keine Kühlschränke gab, war Kooperation und Teilen eine Art Lebensversicherung – wer teilte, erwarb ja auch ein Anrecht auf Versorgung, wenn er mal mit leeren Händen heimkam. Beobachtungen an noch heute als Jäger und Sammler lebenden Gruppen zeigen, dass der Mensch in vielen Klimazonen überhaupt nur überleben kann, indem er den Austausch mit anderen Gruppen systematisch pflegt. Kein
Wunder, dass ein großer Teil unserer Gehirnleistung auf soziale Fertigkeiten ausgerichtet ist – unsere Fähigkeit zu Empathie und Anteilnahme etwa, unser System des mind reading, das uns immer auch an den Handlungen und Absichten der anderen teilhaben lässt, unsere extreme Kommunikationsfähigkeit, durch die wir gemeinsame Symbole nutzen und sprachlich, rituell und seelisch miteinander in Austausch treten können. Und auch das spricht für unsere »soziale« Seite: Ein guter Teil unserer Bedürfnisse ist auf die anderen Menschen gerichtet – man denke nur an unsere fast schon »süchtige« Suche nach Anerkennung und Wertschätzung durch andere.
    Kurz: Homo sapiens hat ein individualistisches, aber gleichzeitig »soziales« Gehirn. Im ursprünglichen Lebenskontext des Menschen war Überleben nur möglich, wenn diese beiden Seiten – das Ich und das Wir – austariert blieben. Nur in dieser Balance konnten Menschengruppen sich in einer extrem harten Welt behaupten, ein paar Hunderttausend Jahre lang. Das war der evolutionäre Gesellschaftsvertrag. Die frühen Völkerkundler staunten darüber, wie viel Energie in Jäger – und Sammlergemeinschaften aufgewendet wurde, um dieses Gleichgewicht zu halten. Wie viele Regeln und Rituale es da gab, um Interessen auszugleichen und Konflikten vorzubeugen. Ohne dieses Bindemittel wäre das Projekt »Mensch« gar nicht möglich gewesen.
    Steckt dieses doppelgleisige Lebensmodell noch heute in uns? Eindeutig! Betrachten wir etwa die kindliche Entwicklung, so ist klar: Kinder verfolgen in ihrer Entwicklung zwei Strategien – mit allen darin enthaltenen Spannungen. Kinder wollen gleich sein, aber sie wollen auch besonders sein. Sie wollen nicht hervorstechen – aber doch herausragend sein. Sie wollen das machen, was die anderen machen, aber doch etwas Eigenes tun. Auch heute noch folgen sie also einem im Grunde paradoxen Entwicklungsauftrag: sich einfügen und sich abheben, autonom sein und verbunden sein. Kein Wunder, dass uns einerseits der Konformitätsdruck auffällt, der unter Kindern herrscht, andererseits aber auch ihr Hang zur großen Bühne – Deutschland sucht den Superstar!
Ja, die kindliche Entwicklung kann geradezu als eine Suche nach einer geglückten Balance von Konkurrenz und Kooperation verstanden werden.
    Auch unser Erwachsenenleben scheint dem Thema »Autonomie in Verbundenheit« gewidmet zu sein. Aus der Psychologie und der Salutogeneseforschung ist bekannt, dass Menschen, so verschieden sie sind, in ihrem Leben durch ganz ähnliche Erfahrungen Aufwind bekommen: Sie wollen
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